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Ein nationaler Widerstand
„Ich muß ans Fenster und schießen.“ Letzter Telextextaus Budapest am Morgen des 4. November 1956. Panzer begruben Ungarns Freiheitstraum.
„Ich muß ans Fenster und schießen.“ Letzter Telextextaus Budapest am Morgen des 4. November 1956. Panzer begruben Ungarns Freiheitstraum.
Unmittelbar vor unserer Jugoslawienreise war Imre Nagy wieder Parteimitglied geworden. Damit war die Angelegenheit allerdings nicht bereinigt. Das war klar. Eine Bereinigung konnte nur bedeuten, ihm ein Ministeramt anzubieten, möglichst das Amt des Ministerpräsidenten. Damit aber war die Parteiführung nicht einverstanden.
Anfang Oktober gab es noch eine Möglichkeit, zu retten, was zu retten war. Ich kann nichts anderes sagen: Wäre Imre Nagy Ministerpräsident geworden und Jänos Kädär Erster Sekretär, hätten wir den Aufstand vom 23. Oktober 1956 vermeiden können.
An diesem Tag kehrten wir—eine Partei- und Regierungsdelegation — aus Jugoslawien zurück. In den Morgenstunden wurden wir am Westbahnhof in Budapest über die Lage informiert. In einer Politbürositzung diskutierten wir über die geplante Studentendemonstration.
Die meisten Mitglieder des Politbüros waren für ein Verbot der Demonstration. Und so wurde sie auch verboten. Allerdings trafen sogleich Proteste gegen diese Entscheidung ein. Einem Konflikt wollte natürlich das Politbüro aus dem Weg gehen. Nach großer Unsicherheit wurde nachmittags um drei Uhr beschlossen, die Demonstration dennoch zu genehmigen.
Ich glaube, es war die richtige Entscheidung. Am 23. Oktober war der nationale Aufstand nicht mehr zu verhindern. Die Demonstration wäre auch ohne unsere Genehmigung zustande gekommen.
Rückblickend meine ich, daß das Politbüro in der Entwicklung der Ereignisse keine Rolle mehr spielte. Die Ereignisse hatten die Grenzen unserer Kontrollmöglichkeiten überschritten.
Am Fenster des Ministerpräsidentenzimmers stehend, sah ich, daß die Spitze der Demonstration bereits die Mitte der Margaretenbrücke erreicht hat. Ein unheimlicher Anblick.
Imre Nagy kam in die Parteizentrale und sank in einen tiefen Sessel. Ich sehe ihn vor mir, wie er dort ziemlich erledigt und verstört saß. Er stimmte seiner Ernennung zum Ministerpräsidenten sofort zu.
Ich bezeichnete die Ereignisse ab 23. Oktober als Konterrevolution ... Heute weiß ich, daß sich ein einheitlicher nationaler Widerstand herausgebildet hatte. Dieser nationale Widerstand hat die demokratische Opposition hervorgebracht. Die radikalen Vertreter des Widerstandes griffen zur Waffe. Historisch gesehen war das ein vollkommen notwendiger Prozeß, denke und sage ich heute.
Die Zitate stammen aus den soeben auf Deutsch erschienenen Erinnerungen Andräs Hegedüs „Im Schatten einer Idee (Amman/ Zürich). Siehe dazu auch DIE FURCHE Nr. 18/1986.
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