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Ein neofaschistischer Erdrutsch

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Enorme Stimmenzuwächse für den neofaschistischen MSI bei Gemeindewahlen vor zwei Wochen insbesondere in Bozen geben den Südtirolern zur Zeit viel zu denken. Unser Mitarbeiter spürte den Ursachen und Gründen des MSI-Erfolges in Südtirol nach.

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Enorme Stimmenzuwächse für den neofaschistischen MSI bei Gemeindewahlen vor zwei Wochen insbesondere in Bozen geben den Südtirolern zur Zeit viel zu denken. Unser Mitarbeiter spürte den Ursachen und Gründen des MSI-Erfolges in Südtirol nach.

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Ausgerechnet im Gefolge des Tiroler Gedenkjahrs in Erinnerung an den Freiheitskampf von 1809 und mitten in den Feiern zum 40. Jahrestag des Zusammenbruchs von Nationalsozialismus und Faschismus ist den italienischen Neofaschisten ein aktueller Grund zum Feiern beschert worden: Erstmals wurde der MSI („Movimento Sociale Italiano”) bei den Gemeindewahlen stärkste Partei in der Südtiroler Landeshauptstadt Bozen. Vor fünf Jahren lag er noch an fünfter Stelle.

Mit einem erdrutschartigen Stimmenzuwachs von über 16 Prozent hat die nationalistische Rechtspartei alle „Paketparteien” überholt, auch die italienisehen Christdemokraten, auch die Südtiroler Volkspartei. Fast jeder dritte Italiener in Bozen stimmte für den MSI und damit gegen Proporz und Zweisprachigkeit, die tragenden Pfeiler des Autonomiestatuts für Südtirol. Bozen ist über Nacht zur „schwärzesten” Stadt Italiens geworden. 1

Der neofaschistische Parteiführer Giorgio Almirante soll Freudentränen geweint haben. Anschließend schrieb er in seinem Parteiorgan „II Secolo d'Italia” („Das Jahrhundert Italiens”) von einem Sieg des in Bozen „gedemütigten, ja diskriminierten Italien”, von einer Abfuhr für die „unwürdigen und betrügerischen” übrigen italienischen Parteien, die „den deutschsprachigen Staatsbürgern im berüchtigten Paket von Zugeständnissen an die SVP skandalöse, ja rassistische Privilegien” eingeräumt hätten.

Die jüngste „Welle der Italia-nitä” müsse die gesamte italienische Politik beeinflussen und auch im Ausland berücksichtigt werden. Jetzt müsse die Südtirol-Autonomie „gemäß dem Willen des Volkes” in seinem Sinne geändert werden, fordert das MSI-Organ.

Die erste Reaktion der staatstragenden Christdemokraten (die nur in Südtirol schwere Stimmenverluste hinnehmen mußten) ist verantwortungsbewußt: Ein klares Bekenntnis zum Autonomiestatut und ein Appell an die SVP, den gemäßigten italienischen Parteien mehr als bisher entgegenzukommen. Tatsächlich würde es im heutigen Europa wohl niemand mehr verstehen, wenn die Südtiroler nicht nur die Neofaschisten, sondern alle Italiener als ihre Erzfeinde betrachteten.

Die SVP hatte bisher fast ausschließlich den Zusammenhalt der deutschen Wählerschaft im Auge. Das liegt in ihrer Natur als Sammelpartei der ethnischen Minderheit und hat ihr auch diesmal die Zustimmung der überwältigenden Mehrheit der Südtiroler gesichert, wenn auch mit geringen Verlusten gegenüber den letzten Traumergebnissen. Im Unterschied zu den Landtagswahlen war diesmal auf manchen SVP-Listen auch Platz für Kandidaten, die sich von der Forderung nach Selbstbestimmung mehr versprechen als von der Autonomie.

Nicht zu Hause in der Sammelpartei sind hingegen weiterhin viele Bürger aus gemischtsprachigen Familien, grün-alternativ eingestellte Jugendliche und die Linksintellektuellen. Dieses (begrenzte) Wählerreservoir bleibt nach dem Freitod der sozialdemokratischen SPS den „Listen für ein anderes Südtirol” vorbehalten — inzwischen die einzige politische Gruppe, die sich mit Erfolg an alle drei Sprachgruppen des Landes wendet.

Die eher nationalliberal eingestellte PDU („Partei der Unabhängigen”) schöpft mit zunehmendem Erfolg aus dem Reservoir der ideologisch ungebundenen Protestwähler und „Bürokratiegeschädigten”. Wenn die Gesamtsumme der Stimmen der deutschsprachigen Parteien und Kandidaten nicht ganz den von der letzten Volkszählung geweckten Erwartungen entspricht, so ist das wohl mit der Rückkehr der (wenigen) Italiener, die bisher mit der SVP sympathisierten, in ihr „angestammtes nationales Lager” zu erklären.

Die SVP hat sich bisher kaum darum gekümmert, was sich im italienischen Lager tut. Bis zu dieser Wahl beschränkte sie sich darauf, die Verantwortung für die sich anbahnende Radikalisierung der Südtirol-Italiener den italienischen Paketparteien und den italienischen Medien anzulasten.

Zweifellos haben es Christdemokraten, Sozialisten, Kommunisten, Sozialdemokraten, Republikaner und Liberale schon vor Jahren versäumt, ihre Wähler rechtzeitig darauf vorzubereiten, daß ihnen das Autonomiestatut die meisten Vorrechte nimmt, die sie vom Faschismus geerbt haben.

Zweifellos haben die meisten italienischen Medien in eine paktfeindliche Richtung gearbeitet, indem sie den Südtirol-Italienern einredeten, jetzt seien sie die unterdrückte Minderheit, weil sie trotz höheren Bedarfs nur mehr den ihnen zahlenmäßig zustehenden Anteil an Staatsstellen und Sozialwohnungen bekommen und weil sie Deutsch lernen müssen.

Zweifellos haben auch die alternativen Neu-Linken mit ihren Kampagnen dazu beigetragen, daß heute mehr Italiener denn je mit dem Südtirol-Paket auf Kriegsfuß stehen. Zweifellos hätte die römische Zentralregierung die Autonomie mit mehr Elan vorantreiben sollen.

Aber all das genügt nicht, um den gefährlichen neofaschistischen Erdrutsch zu erklären. Den größten Einfluß auf alles, was sich in der politischen Landschaft Südtirols abspielt, hat unleugbar die SVP. Auch sie muß sich jetzt fragen, ob sie.tatsächlich alles getan hat, um den Italienern klar zu machen, daß die Autonomie auch in ihrem Interesse liegt.

Die SVP hat den Italienern zu Recht klar gemacht, daß Proporz und Zweisprachigkeit nicht zur •Disposition stehen. Aber zeigt die SVP in weniger wichtigen und in formellen Fragen immer jene Kompromißbereitschaft und jenes Fingerspitzengefühl, mit dem gerade bei Italienern einiges zu holen wäre?

Obwohl die Verwirklichung der Autonomie dem kleinen Südtirol noch genügend dringliche Sachfragen aufgibt, hat sich die Partei jahrelang durch die (derzeit müßigen) Diskussionen um die Selbstbestimmung von diesen Aufgaben ablenken lassen: Vier Jahre hintereinander beherrschte dieses Thema die SVP-Landes-versammlungen und natürlich auch die Schlagzeilen der italienischen Presse.

Jene (noch so wohlmeinenden) Südtiroler in der SVP, im Heimatbund und im Schützenbund, die der Öffentlichkeit bei jeder Gelegenheit separatistische Wunschträume kundtun oder gar Revanchegelüste durchblicken lassen (auch das ist vereinzelt der Fall), sind direkt die besten Wahlhelfer, die sich die Neofaschisten wünschen können. Denn nichts, was das restliche Italien von Südtirol erfährt, ist so publikumswirksam wie überspitzte deutsch-nationale Äußerungen.

Der enorme Wahlerfolg des MSI ist nicht zuletzt die Retourkutsche der Italiener gegenüber einigen allzu „schneidigen” Südtiroler Volkstumskämpfern, denen die SVP zuviel Spielraum gewährt und im einen oder anderen Fall sogar zu Amt und Würden verholfen hat; denen die italienische Presse jedes Wort vom Munde abgelesen hat, sodaß sich die italienischen Bürger andauernd provoziert fühlten.

Die größte Provokation in italienischen Augen waren sicher die Spruchbänder und die Dornenkrone, die im September beim Tiroler Landesfestzug in Innsbruck auftauchten. Die Urheber meinten, es sei ihnen gelungen „die Weltöffentlichkeit” auf die Sache des geteilten Tirol aufmerksam zu machen.

Gelungen ist ihnen etwas ganz anderes: eine Mobilisierung des italienischen Nationalismus wie schon seit langem nicht mehr. Gelegenheit dazu wird es bald wieder geben: Der neofaschistische Parteichef plant einen Auftritt in Bozen. Hoffentlich wird er von den Südtirolern ignoriert, wie es sich gehört und wie es dem Frieden im Lande dienlich wäre...

Wenn die Südtiroler nicht wollen, daß die Italiener in Bozen noch nationalistischer werden, dann dürfen sie nicht nach den Sternen greifen. Dann müssen sie jetzt Prestigefragen wie die Abschaffung der erfundenen italienischen Ortsnamen hintanstellen und gegenüber den gemäßigten Italienern und den „Gemischten” einen freundlichen Ton anschlagen, ohne das Wesentliche und Lebenswichtige aus den Augen zu verlieren: Das sind heute die vielfältigen Herausforderungen der Autonomie im Sinne einer sauberen, gerechten und kompetenten Verwaltung, die allen drei Volksgruppen in Südtirol zugutekommt.

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