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Ein Neubeginn mit Trippel-Schritten

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Uneinigkeit in der Sache mit schönen Worten zu verbrämen, das war meist das Ergebnis der letzten EG-Gipfelgespräche. In Luxemburg schien man erstmals in einigen Punkten kompromißbereit zu sein.

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Uneinigkeit in der Sache mit schönen Worten zu verbrämen, das war meist das Ergebnis der letzten EG-Gipfelgespräche. In Luxemburg schien man erstmals in einigen Punkten kompromißbereit zu sein.

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Zehn Jahre ist es her, daß der „Europäische Rat“ als oberstes Lenkungsorgan der westeuropäischen Integration eingerichtet wurde. Damals hielt man das für einen großen Fortschritt. Die Mühseligkeit des Aushandelns in den „gewöhnlichen“ EG-Organen sollte durch die gebündelte Autorität der Spitzenverantwortlichen überwunden, die Europapolitik dynamischer werden. Inzwischen trifft sich der Europäische Rat bestehend aus den Regierungschefs der EG-Mitgliedstaaten und dem Präsidenten der Brüsseler Kommission — dreimal im Jahr, die Tagungen sind zur Routine geworden; oft blieb die Einigung über die gerade anstehenden Probleme aus, manchmal wurde das nur mühsam kaschiert.

Auch diesmal gab es Anlaß zur Sorge. Fünf Monate zuvor, Ende Juni in Mailand (vgl. FURCHE 26/1985) stand ein Grundsatzbeschluß über die EG-Reform auf der Tagesordnung. Nach jahrelanger Dauerkrise konnte man nicht mehr anders. Auch die Initiative des Europa-Parlaments zu einer Unionsverfassung war eines der auslösenden Momente: die Parlamentarier wollten den bestimmenden Einfluß der Mitgliedstaaten zugunsten stärker supranationaler Entscheidungselemente schwächen, darauf mußte reagiert werden.

Außerdem macht auch der Beitritt Spaniens und Portugals eine Uberprüfung der Beschlußregelung möglich: Wenn zwölf Minister im Rat der Gemeinschaft zu Entscheidungen kommen sollen, führt die Einstimmigkeitsnorm mit großer Wahrscheinlichkeit zur Selbstlähmung; die Interessengegensätze gingen ja in der erweiterten Gemeinschaft viel tiefer als unter den sechs Gründerstaaten, die in den fünfziger Jahren noch meinten, man könnte in allen wichtigen Dingen Einstimmigkeit erzielen.

Aber die Mailänder Tagung endete unbefriedigend. Briten, Dänen und Griechen waren gegen substanzielle Vertragsänderungen - die Einberufung einer entsprechenden Regierungskonferenz wurde nur mit Mehrheit beschlossen; die unwilligen Länder waren zwar vertreten, aber die Verhandlungen verliefen - vom September bis zum November — eher entmutigend. Es lag nahe, daß am 2. und 3. Dezember in Luxemburg wieder einmal Uneinigkeit in der Sache mit schönen Worten verbrämt würde.

Aber es kam anders. Gewiß, ein „großer Sprung“ zur „Europäischen Union“ läßt nach wie vor auf sich warten — aber einige Schritte ist man vorangekommen. Nur Dänemark steht noch abseits. In Rom hat man zwar auch Bedenken, aber aus umgekehrten Gründen. Man hält die Reformvereinbarungen für zu bescheiden.

Was wurde beschlossen?

• Bis Ende 1992 soll es einen „einheitlichen Binnenmarkt“ geben — nicht nur für Waren (die Zollunion besteht ja längst!), sondern auch für Dienstleistungen und Kapital. Das klingt einfach, aber dazu gehört zum Beispiel auch die Angleichung einer Fülle von Vorschriften (vom Lebensmittelrecht bis zur Zulassung von Ärzten) und Steuergesetzen (u. a. der einheitliche Mehrwertsteuersatz). Und dies greift erheblich in die Gestaltungsspielräume der Mitgliedstaaten ein.

• Die Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion wird ausdrückliche Vertragsvorschrift (nicht nur Inhalt unverbindlicher Ankündigungen). Allerdings soll die Verantwortung vorerst in den Händen der Mitgliedstaaten liegen; von einer übernationalen Konjunkturpolitik, die den nationalen Regierungen auferlegt würde, oder von einer gemeinschaftlichen Notenbank ist nicht die Rede. Derartiges bedürfte einer erneuten Vertragsänderung, wenn es in Zukunft einmal aktuell werden sollte.

• Neue EG-Zuständigkeiten soll es für die Forschungs- und Technologiepolitik, den Umweltschutz und die Sozialpolitik geben. (Sogar der Dialog der Sozialpartner soll als förderungwürdig in den Vertragstext kommen!). Für Österreich ist von Interesse, daß auf forschungs- und technologiepolitischem Gebiet auch Zusammenarbeit und Verbundprojekte von EG, Nichtmitgliedsländern und anderen internationalen Organisationen vorgesehen sind. Das heißt, die Gemeinschaft wird beispielsweise im Rahmen von „Eureka“ mitmachen können, unzweckmäßiges Neben- oder Gegeneinander soll vermieden werden.

• Die Uberwindung von strukturellen und regionalen Diskrepanzen erhält einen höheren Stellenwert; auch bei der Binnenmarktrealisierung sind regionale Entwicklungserfordernisse zu berücksichtigen. (Vermutlich hat dieser Punkt die Griechen beschwichtigt.)

• Das Organ- und Entscheidungssystem wird modifiziert: Im Ministerrat soll für eine Reihe von Beschlüssen — auch auf Gebieten, für die die Gründungsverträge Einstimmigkeit vorsahen — die Mehrheit genügen. Dabei sollen, wie schon bisher, die Stimmen der großen Mitgliedsländer mehr Gewicht haben als die der kleinen.

Das Parlament soll stärkere Mitwirkungsrechte bekommen, namentlich für die Binnenmarkt-, die Technologie- und die Sozialpolitik. Wenn es Beschlußvorlagen des Rates mit absoluter Mehrheit ablehnt oder abändert, müssen Beharrungsbeschlüsse des Rates einstimmig erfolgen; zur Inkraftsetzung des vom Parlament gebilligten bzw. abgeänderten Textes soll die Stimmenmehrheit im Rat genügen. Allerdings sind im Hinblick darauf, was im Fall der Nichteinigung geschieht, noch Fragen offen. Die Außenminister sollen sich am 16. Dezember um Klärung bemühen.

Die Kommission soll zu Durchführungsmaßnahmen größere Vollmachten erhalten. • Die außenpolitische Zusammenarbeit — sie hatte bisher keine vertragliche Grundlage — soll einen verpflichtenderen Charakter bekommen, wobei jedoch an Mehrheitsbeschlüsse nicht gedacht ist.

Uber diese und über einige andere Punkte hat man, abgesehen von Dänemarks Bedenken und von Italiens Frustration darüber, daß nicht mehr erreicht wurde, Einvernehmen erzielt.

Noch ist freilich die Reform nicht unter Dach und Fach: Die vertragliche Ausformulierung kann noch Probleme zur Sprache kommen lassen, und der neue Vertragstext muß die Zustimmung der mitgliedsstaatlichen Parlamente finden. Die Chancen dafür sind nicht schlecht.

Der Autor ist Professor für Politikwissenschaft in Wien und Direktoriumsvorsitzender des Instituts für Europäische Politik in Bonn.

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