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Ein neuer Bildungsbegriff?

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Bundeskanzler Franz Vranitzky hat einen neuen Bildungsbegriff propagiert. Wie seiner Regierungserklärung zu entnehmen ist, befinden wir uns in Zeiten eines „rasanten Strukturwandels", der eine „Anhebung der Qualität des Bildungswesens" erforderlich macht. Dazu bedarf es in Vranitzkys Augen eines „neuen Bildungsbegriffs".

Für den Regierungschef soll dieser Bildungsbegriff zwischen Bildung als autonomem Wert für den einzelnen sowie seiner Persönlich-keitsentwicklungeinerseits und den

praktischen Anforderungen für Ausbildung und Arbeitsleben anderseits vermitteln. Kreativität als „wichtige Voraussetzung für soziale, politische und kulturelle Partizipation" soll ebenso gefördert werden wie Begabungen: „Kindern muß nicht nur ein vielfältiges, sondern auch ein überschaubares Angebot gemacht werden."

Solches aus dem Mund eines sozialistischen Regierungschefs läßt aufhorchen. Ist es den beiden Koalitionsparteien gelungen, über ideologische Schatten der Vergangenheit zu springen und einen tragfähigen Kompromiß für die Zukunft zu finden? Ist ein „neuer Bildungsbegriff" gefunden, der die Grabenkämpfe um eine selektive Schule zur Elitenbildung (VP-Wunsch) oder eine kompensatorische Schule auf dem Weg zur Gesellschaft der Gleichen (SP-Wunsch) beendet?

Hoffnungsfroh beginnt man den „neuen Bildungsbegriff" im detaillierten Arbeitsübereinkommen der beiden Koalitionsparteien zu suchen und findet - nichts. Auch die Suche nach der im Ministerialent-wurf zum Bereich Schule noch vorgesehenen Differenzierung der Lehrpläne in Kern- und Erweiterungsbereiche verläuft im Sand. Dafür werden im Arbeitsübereinkommen uralte, nie konsequent realisierte Forderungen aufgewärmt: Aktualisierung und Straffung der Lehr plane, Reduktion der Wochenstunden, verstärkter Einsatz von projektorientiertem und fächerübergreifendem Lernen.

So wichtig eine Lehrplanreform ist, so problematisch ist das einseitige Forcieren von projektorientiertem Lernen. Wie Schulversuche gezeigt haben, ist die maßvoll eingesetzte Art dieses Lernens gut geeignet, Lebensbezüge herzustellen. Übermäßiger Einsatz von Projektunterricht verhindert aber die Bildung von Strukturwissen. Kinder, dieeinem „verstärktenEinsatz" von Projektunterricht ausgesetzt sind, lernen schlicht und einfach weniger als andere, weil ihnen vor lauter Bäumen (Projekten) der Blick auf den Wald (Überblickswissen) verstellt wird. Ob das der richtige Weg in eine von rasant wachsender Bildungskonkurrenz geprägte EG ist?

Bisher ist der „verstärkte Einsatz" von Projektunterricht ebenso wie die Schulversuche zur „Weiterentwicklung der Schulstruktur" in erster Linie zur gesellschaftspolitisch motivierten Zerstörung der „überkommenen Schule" eingesetzt worden. Neue Bildungsbegriffe, die die Vermittlung zwischen der Persönlichkeitsbildung und den praktischen Anforderungen geleistet hätten, sind dabei nicht sichtbar

geworden. Anstelle dessen wurde von den „Abnehmern der Schule" wie Universitäten oder Wirtschaft immer heftiger der Ruf nach Festigung der grundlegenden Kulturtechniken laut. Grundstrukturen sind offenbar für die Praxisbewältigung Voraussetzung.

Sollen die Erklärungen der Bundesregierung zur Schulpolitik nicht wohlklingende Allgemeinplätze bleiben, ist eine grundlegende Lehrplanreform unerläßlich. Nur wenn man in Grund- und Erweiterungsstoff der verschiedenen Schularten differenziert, kann man später den Schülern genau angeben, was für den Übertritt in eine andere Schulart nachgelernt werden muß. Auf diese Art kann man zu einem Bausteinsystem der Wissensvermittlung und der Qualifikation kommen. Das ist kein leichtes Unterfangen, da jeder Lehrer den Wissensumfang seines Fachgebietes mit Zähnen und Klauen verteidigen wird. Man ist dieser Lösung auch jahrzehntelang aus dem Weg gegangen.

Die Lehrplanreform des Jahres 1985 war vor allem gesellschaftspolitisch in Richtung Einheitslehrplan motiviert und hat - wie von den Initiatoren geplant - Hauptschule und AHS-Unterstufe in den Ballungszentren erst so richtig zum Problem gemacht. In der neuen Regierungserklärung scheint sich bereits die Erkenntnis durchzusetzen, daß dieser Weg nicht in die Zukunft führt. Trotzdem können aufgrund des Arbeitsübereinkommens die Schulversuche zur Gesamtschule verdoppelt werden, allerdings unter der Auflage einer „flexibleren Form der Differenzierung" als beim Leistungsgruppenprinzip der Hauptschule. Der Begriff „flexiblere Form", wie ihn das Arbeitsübereinkommen verwendet, ist freilich sehr weitläufig. Ohne klare Lehrplanreform könnten Vertreter der veralteten Ideologien leicht in Versuchung geraten, diese Aussage als Vehikel zur Einheitsschule zu mißbrauchen.

Die Formulierung „Besondere Aufmerksamkeit verdient die Entwicklung besonders begabter und interessierter Schüler" könnte die Vertreter veralteter Eliteideologien auf den Plan rufen. Daß solche Gefahren nicht ausgeschlossen werden können, zeigt der Umstand, daß im Entwurf des Arbeitsübereinkommens die Kosten für ganztägige Schulangebote auf freiwilliger Basis aus dem Familienlasten-ausgleichsfonds hätten finanziert werden sollen. Damit wären wieder einmal alle, die ihre Kinder selbst betreuen, die Dummen gewesen. In der Endfassung des Arbeitsübereinkommens hat diese marxistische Tendenz, Erziehung zu vergesellschaften, keinen Niederschlag gefunden. In der Regierungserklärung ist von flexiblen Formen der Finanzierung die Rede.

Sehr viel wird an der praktischen Umsetzung dieser Vorhaben liegen. Positiv kann die Aussage des neuen Ünterrichtsministers Rudolf Schölten gewertet werden, ihm gehe es nicht um die „Fortschreibung eines Ideologiekatalogs ". Trotzdem ist erhöhte Aufmerksamkeit geboten, ob die Etablierung des „neuen Bildungsbegriffs" und eine Lehrplanreform gelingen.

Der Autor ist Präsident des Katholischen Familienverbandes der Erzdiözese Wien und Schulexperte des Katholischen Familienverbandes Österreichs.

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