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Ein neuer Klassiker

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Nach diesem gutbesuchten, fast ausverkauften Konzert, das mit enthusiastischem Beifall nicht nur der vielen jüngeren Besucher, sondern auch der mittleren Generation bedankt wurde, hat man den Eindruck, ja fast die Gewißheit, daß sich der Reihe der Klassiker unseres Jahrhunderts bald ein neuer Name zugesellen wird: der des heute 60jährigen Polen Witold Lutoslawski. Für viele Beobachter des zeitgenössischen Musiklebens war er schon seit 10 bis 15 Jahren ein „Geheimtip“. Was nunmehr aber überrascht und erfreut, ist seine Breitenwirkung, der positive und nachhaltige Eindruck, den seine wahrlich nicht unkomplizierte Musik auf ein mehr oder weniger unvorbereitetes Publikum macht.

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Nach diesem gutbesuchten, fast ausverkauften Konzert, das mit enthusiastischem Beifall nicht nur der vielen jüngeren Besucher, sondern auch der mittleren Generation bedankt wurde, hat man den Eindruck, ja fast die Gewißheit, daß sich der Reihe der Klassiker unseres Jahrhunderts bald ein neuer Name zugesellen wird: der des heute 60jährigen Polen Witold Lutoslawski. Für viele Beobachter des zeitgenössischen Musiklebens war er schon seit 10 bis 15 Jahren ein „Geheimtip“. Was nunmehr aber überrascht und erfreut, ist seine Breitenwirkung, der positive und nachhaltige Eindruck, den seine wahrlich nicht unkomplizierte Musik auf ein mehr oder weniger unvorbereitetes Publikum macht.

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Lutoslawski, in Warschau als Komponist, Kompositionslehrer, Organisator und sogar im Verlagswesen tätig, gehört zu jenen Musikern, die von der fortschreitenden (und hoffentlich noch lange anhaltenden) Liberalisierung des polnischen Musiklebens profitieren, das im international renommierten „Warschauer Herbst“ sich auch nach außen manifestiert.

Einer kurzen „folkloristischen Periode“, von der wir aber hier bisher wenig kennenlernen konnten, folgte ein Studium, ein Abtasten, ein gründliches Prüfen all dessen, was sich während der letzten 40 Jahre etwa in den Partituren der gesamten europäischen Musik widergespiegelt hat. Die Wiener Zwölftonmusik hat Lutoslawski eben gerade nur zur Kenntnis genommen, ohne sich ihrer Technik zu bedienen oder von ihren Emotionen angesteckt zu werden. Von den neueren Komponisten hat er sich Bartök am genauesten angesehen, ohne aber sein Adept zu werden. — Die streng ausgeklügelte Lesemusik der Seriellen hat er sich offenbar nur flüchtig angesehen, und die zuweilen genialischen Klangeffekte seines jüngeren Landsmannes Penderecki konnten ihm wenig imponieren — so scheint es wenigstens.

Das Geheimnis seines legitimen Erfolges, die Qualität seiner Musik, scheint uns in folgendem zu liegen: Lutoslawski geht zwar mit der Zeit, aber nicht mit ihren Modeströmungen. Er erarbeitete sich — nach dem Grundsatz „Prüfet alles, aber nur das Beste behaltet!“ — einen unverkennbaren Eigenstil, der, wenn man will, auf Bartöks letzten Werken basiert. Aber das Eigene, Persönliche, Emotionelle, das Verhältnis von intellektueller Kontrolle und persönlicher Aussage ist halt doch — und immer wieder — das Entscheidende. (Übrigens kommt Lutoslawski aus einem hochintellektuellen, ehemals großbürgerlichen Milieu und hat neben Musik auch Mathematik studiert. Das prägt ein wenig auch das Erscheinungsbild des temperamentvollen Gentlemans am Pult.) Natürlich ist es ein Glück für Lutoslawski, daß er auch ein routinierter Dirigent ist. Aber auch ohne seine persönliche Mitwirkung werden seine Werke in der halben Welt gespielt (bei uns bisher leider zu selten).

Die drei an diesem Abend von den Wiener Symphonikern in Bestform unter der Leitung Lutoslawskis vorgeführten Stücke waren: eine Trauermusik für Bela Bartök aus dem Jahre 1958, etwa 15 Minuten dauernd, nur für Streicher, und Lutoslawskis Verwandlung der Zwölftonmusik in eine Art „totale Chromatik“ demonstrierend.

Im Mittelpunkt des Konzerts stand das „Livre pour orchestre“, ein Auftragswerk der Stadt Hagen aus dem Jahre 1968. Es ist in vier streng auskomponierte „Kapitel“ gegliedert, die von drei Intermedien unterbrochen werden. Hier dürfen nach unverbindlichen Anleitungen in der Partitur, die Orchestermusiker jeweils zwei bis drei Minuten improvisieren. Diese „Entspannung“ markiert auch der Dirigent, indem er sich setzt oder einfach in Ruhestellung verharrt. Dann nimmt er wieder das Zepter in die Hand und führt nach einem längeren Finale alles zum guten Ende.

Es ist, bei so anspruchsvollen Werken wie denen Lutoslawskis, ein großer Unterschied, ob man sie zum erstenmal hört oder wiederholt „auskultiert“. Dem „Livre pour orchestre“ begegnete der Referent an verschiedenen Orten zum drittenmal. Das Konzert für Violoncello und Orchester aus dem Jahre 1970 erklang als Wiener Erstaufführung. Es ist mosaikartig aus sieben Sätzchen zusammengesetzt, will als eine Herausforderung zwischen dem Cello und dem Orchester verstanden werden, bringt unerhört neue Färb- und Spielnuancen sowohl im hochdifferenzierten Orchester wie im Solopart, hatte einen hervorragenden jungen deutschen Cellisten, Hans Schiff, als Interpreten — war aber trotzdem nicht ganz befriedigend. In halb Europa hatten der Komponist und der Solist damit große Erfolge. Dem Wiener Publikum haben die beiden ersten Werke besser gefallen.

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