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Ein neuer Newton ?

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Zwischen der Evolution, der Abstammungslehre, und dem „Darwinismus quot;, der dazu ein Erklärungsmodell liefert, gutes, genau zu unterscheiden. Die Evolution ist Allgemeingut, der Darwinismus umstritten

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Zwischen der Evolution, der Abstammungslehre, und dem „Darwinismus quot;, der dazu ein Erklärungsmodell liefert, gutes, genau zu unterscheiden. Die Evolution ist Allgemeingut, der Darwinismus umstritten

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Es ist für Menschen ungereimt ...zu hoffen, daß noch etwa dereinst ein Newton aufstehen könne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen werde.

Charles Darwins 100. Todestag, der 19. April 1982, wird die Öffentlichkeit festlich bewegen und das Für und Wider seiner Theorie in den Mittelpunkt der Diskussion stellen.'Vor allem das „Für", denn geradezu allergisch reagiert ein Großteil der heutigen Biologengeneration darauf, daß es so etwas wie das naturwissenschaftliche „Wider" eines begründeten Einspruchs überhaupt noch geben könnte.

Man ist nach wie vor mit Ernst Haeckel bereit, der deutlichen Ablehnung aller solcher Vorstellungen durch den großen Königsberger Philosophen entschieden entgegenzutreten und sich eine endgültige Lösung der „Welträtsel" ohne „ordnende Absicht" vorzugaukeln: „Nun ist aber dieser unmögliche Newton siebzig Jahre später in Darwin wirklich erschienen, und seine Selektionstheorie hat die Aufgabe tatsächlichgelöst, die Kant für absolut unlösbar hielt" (E. Haeckel, 1868).

Jede Diskussion auf diesem Feld setzt voraus, daß die Grundsituation klar vor Augen steht: „Darwinismus" ist nicht identisch mit Abstammungslehre, sondern liefert zu ihr ein Erklärungsmodell, dessen Annahme oder Ablehnung völlig unabhängig ist vom Grundphänomen der Evolution. Die Leugnung der Evolution käme dem Verzicht auf den Gesamtbestand der Wissenschaft Biologie gleich und ist daher bei einem wirklichen Kenner der Fakten schwer vorstellbar.

Was behauptet nun Darwin, bzw. der inzwischen durch wichtige biologische Entdeckungen modernisierte Neo-Darwinismus? Die Behauptung lautet: Jeder Artwandel — auch der von der Amöbe aufwärts bis zum Menschen reichende — ist durch die Faktoren Mutation (zufällige Strukturabweichungen im genetischen Informationssystem), mechanische (Umwelt) oder organische (geschlechtliche Zuchtwähl) Selektion und statistische Entmischung in der Isolation ausreichend erklärbar als notwendiger Anpassungsprozeß an die sich verändernde Umwelt.

Und wenn es in schwierigen Fällen, etwa bei der deutlichen Höherentwicklung, früher schien, als ob doch irgendwie ein von außen eingreifender Wille, eine „ordnende Absicht" (I. Kant), hinter der Evolution waltet, so „stellt sich doch in zunehmendem Maße heraus, daß trotz aller „zufällig" wirkenden Einzeländerungen die Evolution insgesamt als ein weitgehend bzw. völlig zwangsläufiger Prozeß anzusehen ist, der sich dem generellen Kausalgeschehen der Natur einfügt" (B. Rensch, 1970).

Daher also ist der Neodarwinist „fest davon überzeugt, daß das Grundproblem der Evolution durch die Darwinsche Theorie tatsächlich eine gedanklich völlig befriedigende Lösung gefunden hat" (E. Mayr, 1975).

Hier muß nun entschiedener Einspruch eingelegt werden. Von einer gedanklich völlig befriedigenden Lösung kann keine Rede sein, auch wenn dies von bekannten Zoologen mit ideologischer Ergriffenheit behauptet wird. Zur notwendigen Ausnüchterung, mag hier die lapidare Feststellung des anerkannten Erkenntniskritikers Sir Karl Popper stehen: „Weder Darwin noch irgendein Darwinist hat bisher eine effektive kausale Erklärung der adaptiven Entwicklungeines einzigen Organismus oder Organs geliefert" (1971).

Fassen wir hier nur kurz die schon oft geschilderten, wesentlichen Einwände gegen Darwins angeblich „völlig befriedigende" Faktoren zusammen:

An der Mutation bleibt ihre entscheidende Bestimmung als zufällig grundsätzlich unbeweisbar (was letztlich schon aus der Definition dieses Zufalls als gesetzlose Beliebigkeit hervorgeht).

Die Selektion des Tüchtigsten und sein Uberleben im Kampf ums Dasein ist im Grunde eine Tautologie (ein überflüssiger oder Zirkelschluß). Popper urteilt: sie ist „kaum mehr als eine Tautologie, nämlich keine empirische, sondern eine logische Wahrheit". Die Uberlebenden sind die besser Angepaßten (das ist eine Definition), folglich haben die besser Angepaßten überlebt (das ist logisch, mehr aber nicht).

Die Isolation schließlich kann nur neu kombinieren oder statistisch entmischen, was bereits vorhanden ist. Sie kann also grundsätzlich nichts schaffen, was über das Vorgegebene qualitativ hinausführt.

Was aber die Höherentwicklung betrifft, so ist erstens einzuwenden, daß Qualitätsmängel nicht zu höherer Qualität, Fehler im genetischen Informationsfluß daher auch nicht zu höherwertigen Systemeinheiten führen können. Zweitens ist der klimatische Wandel der Umwelt, an den es sich im „zwangsläufigen Prozeß" anzupassen galt, im Ganzen der Erdgeschichte unerheblich, bei den evolutiv reichsten Lebensräumen (Korallenriffen und tropischen Urwäldern) sogar völlig ausgeschaltet.

Drittens haben gerade die primitivsten Lebewesen (z.B. Bakterien, Amöben) die längste Geschichte, hätten sich also den eventuellen Wechselfällen der Umwelt offensichtlich am erfolgreichsten angepaßt, ohne eine Höherentwicklung zu durchlaufen. Viertens ist das Kennzeichen der Höherentwicklung gerade die zunehmende Unabhängigkeit von jeder speziellen Umwelt (wie zuletzt L. Ziegler 1965 deutlich machte), kann also nicht durch Anpassung erreicht werden, sondern stellt deren Gegenteil dar.

Schließlich aber (so zeigte vor allem A. Portmann) sind alle von Darwin erwähnten Faktoren völlig ungeeignet, um die über den „Erhaltungswert" hinausgehenden Merkmale der Lebewesen — ihre „Darstellungswerte", wie Gestalt, Muster, Farbenpracht und Harmonie sowie ihre „Innerlichkeit" — zu erklären oder auch nur zuzulassen.

In Darwins 100. Todesjahr muß diesem großen Biologen dankbar bestätigt werden, daß nie vorher eine naturwissenschaftliche Theorie die Welt so bewegt hat wie seine. Er hat Anlaß dazu gegeben, das Theoriegebäude der Biologie bis in die Fundamente auszuloten und neu zu vermessen, hat kühne Hoffnungen geweckt und tiefe Enttäuschungen bewirkt, mit beiden aber die Biologie eigentlich erst zur Arena der weltanschaulichen Kämpfe um den Menschen und sein Selbstverständnis gemacht.

Wenn wir heute erkennen, daß der Darwinismus den Menschen — seine Herkunft, seine Gegenwart und seine bedrohte Zukunft -nicht erklären kann, so ist dies ein klarer Gewinn gegenüber früherer Illusion „gelöster" Welträtsel.

Denn wenn es heute wieder überall in der Naturwissenschaft deutlich wird, daß mechanistische, positivistische und darwinistische Konzepte nicht ausreichen zur Erklärung der Welt, dann wird zugleich klar, daß die konsequent-darwinistische Standortbestimmung des Menschen als „Zigeuner am Rande des Universums" (J. Monod) aufgegeben werden darf zugunsten einer anderen, die uns als Wesen doppelter Herkunft — als biologisch-materielle und als geis"tig-immaterielle Erscheinungen -auch wieder im Licht einer doppelten Zukunft zu sehen wagt.

Warum sollte die moderne Biologie — ein Jahrhundert nach Darwin und Haeckel — nicht endlich auch soweit kommen wie die viel ältere Physik und ihre eigenen Gewißheiten über das Geschehen der Evolution neu und auf höherer Ebene bedenken?

Der Autor ist Professor für Zoologie an der Universität Gießen und Direktor des Max-Planck-Instituts für Limnologie in Schlitz (BRD).

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