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Ein neues Großreich ?

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Nationalfeiertag, 29. November, voriges Jahr. Die Sarajewoer Rockformation „Zabranjene Pu-senje“ komponiert ein Lied: „Es ist der Tag der Republik, und der Alte hat etwas gebechert. Er fragt sich, was ist los mit der heutigen Jugend. Warum ist sie an nichts interessiert und hat keine Lust mehr, Partisan zu spielen?“ Der Sänger resignierend: „Mir ist alles genommen. Ich warte auf den Reisepaß, um auszuwandern.“ Es hagelte Proteste. Politiker tobten über den Nihilismus, der Rundfunk boykottierte den Song.

2. Oktober, ein Jahr später. Die Belgrader „Politika“: „Hätten unsere Vorfahren je erahnt, was spätere Generationen einmal erwartet, sie wären wohl nie auf den Balkan gezogen.“

Das Land der Südslawen zerbricht. Der Traum einer Vielvöl-kerföderation auf dem bunten Balkanteppich ist ausgeträumt.

„Das Schlachtfeld Jugoslawien“ — so die Zagreber „Danas“ — „wird ein neuer Libanon“. Haß und blinde Wut versetzen den ausländischen Betrachter in Schrecken.

Es ist die Moskauer „Prawda“, die das Gespenst vom Brudermord an die Wand malt. Das „Neue Deutschland“, dogmatisches Zentralorgan der SED, erklärt: „Die Frage nach der Zukunft Jugoslawiens stellt sich.“ Und erst die Aufregung in Budapest! Erstmals seit dem Kriegsende kursiert die Angst: Werden die Landsleute in der Wojwodina ähnlich zu leiden haben wie die unter der Rute Nicolae Ceauses-cus?

Dagegen tönt es aus Belgrad: „Nur ein starkes Serbien kann Jugoslawien retten“, „Serben, laßt uns Bürgerwehren bilden“, „Tod den Albanern“, „Magyaren, verzichtet auf eure Minderheiten-rechte, sonst wird es euch schlecht bekommen“.

Und von ganz oben, der Parteispitze, wird applaudiert. Es stört ihn nicht, den neuen Serbenführer Slobodan Milosevic (FURCHE 37/1988), daß seine Kohorten sich zum Bürgerkrieg rüsten, um ein eigenes Großreich zu schaffen. In Kosovo, vor Jahrhunderten serbisches Kernland, heute überwiegend (73 Prozent) albanisch, hat der Milosevic-Anhänger Ko-sta Bulatovic illegale Freikorps aufgestellt. Man fragt sich laut, und das nicht etwa in Tirana, wo die stalinistischen Herrscher schon immer paranoid-verängstigt zum großen Nachbarn schielten, wann die Skipetaren ihrerseits Bürgerwehren aufstellen.

In der Wojwodina ging die Wohnung eines Staatsanwalts in Flammen auf, weil der Mann vor dem Terror der Straße gewarnt hatte. Sind die Ungarn nun die ersten, die ihre Landsleute mit Waffengewalt vor dem „verhaßten Todfeind“ schützen wollen? Oder gar die Slowenen, die sich doch viel um Pazifismus und Entmili-tarisierung der Gesellschaft kümmern?

Jelena Lovric, Kommentatorin beim Zagreber „Danas“: „Es wird die Zeit kommen, da werden die liberalen Kräfte, die Reformer und nicht etwa die Dogmatiker die noch immer stalinistisch geprägte Armee zu Hilfe rufen.“

Zu welchem Ziel? Die liberale „Delo“, Zentralorgan der slowenischen Kommunisten: „Milosevic kann sich neben Mussolini und Hitler sehen lassen.“ Der Angegriffene: „Genossen in Laibach, ihr seid Konterrevolutionäre, nehmt eure Hüte!“

Mittlerweile ist es egal, wer recht hat. Es floß schon zuviel Blut. Die fast täglichen Massendemonstrationen mit Zehntausenden, teilweise sogar 100.000 Teilnehmern werden irrationaler, hysterischer uild vor allem militanter.

Es geht schon längst nicht mehr um Argumente. Das Herrengebaren, die Sucht nach Stärke, billiger Populismus und schwarzer Nationalismus brachten unseren Nachbarn an den Abgrund, nachdem alle Rezepte zur Uberwindung der katastrophalen Wirtschaftskrise, die mittlerweile die Mehrzahl der Bürger hilflos ans Existenzminimum drängte, versagten.

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