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Ein neues Zentrum der Macht

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Eine Weltsekunde lang schien ein neuer Nahostkrieg zu drohen: Syrien entsandte Truppen in den von einem Bürgerkrieg zerfetzten Libanon und setzte damit genau jene Handlung, die von Israel zuvor als ein Schritt bezeichnet worden war, der nicht ohne weiteres hingenommen werden könne. Doch auf israelischer Seite geschah nichts, denn Präsident Assad hätte außerordentlich geschickt taktiert. Das Fait accompli eines Eingreifens, über das nach den Monaten eines mörderischen Konfliktes, dessen Ende niemand absehen konnte, nur jeder erleichtert sein konnte, hat jedoch die politische Landschaft des Nahen Ostens tiefgreifender verändert, als so mancher Beobachter annehmen mag.

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Eine Weltsekunde lang schien ein neuer Nahostkrieg zu drohen: Syrien entsandte Truppen in den von einem Bürgerkrieg zerfetzten Libanon und setzte damit genau jene Handlung, die von Israel zuvor als ein Schritt bezeichnet worden war, der nicht ohne weiteres hingenommen werden könne. Doch auf israelischer Seite geschah nichts, denn Präsident Assad hätte außerordentlich geschickt taktiert. Das Fait accompli eines Eingreifens, über das nach den Monaten eines mörderischen Konfliktes, dessen Ende niemand absehen konnte, nur jeder erleichtert sein konnte, hat jedoch die politische Landschaft des Nahen Ostens tiefgreifender verändert, als so mancher Beobachter annehmen mag.

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Assad hätte keinen besseren Moment für das Eingreifen im Libanon wählen können. Ministerpräsident Rabin war im Begriff, in ein über die israelische Politik zu Recht oder Unrecht verärgertes Washington abzureisen. Und Präsident Assad tat alles, um Israel keinen zwingenden Grund für ein Eingreifen zu liefern. Nicht nur, daß das Befriedungsunternehmen schnell und reibungslos über die Bühne ging — die syrischen Offiziere und die von ihnen geführten palästinensischen Truppen hatten offensichtlich auch strengste Anweisung, den Süden des Libanon, und damit jenes sogenannte Fatah-Land, das von Israel seit langem als Sicherheitsvorfeld betrachtet wird, zu meiden.

Dieses Aufatmen darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß der libanesische Bürgerkrieg Präsident Assad den Anlaß geboten hat, einem alten nahöstlichen Traum, der unter den Verwirklichungsversuchen von Nasser und Ghadafi in Nichts zerrann, einen Schritt näherzukommen: die Kontrolle über ein anderes arabisches Land zu gewinnen. Die Vereinigte Arabische Republik unter Nassers Fittichen war ein Versuch ägyptischer Machtausweitung über den Nahen Osten und mußte am Selbständigkeitswunsch der „Partner“ zerbrechen. Die Unionspläne Ghadafis, zuerst mit Ägypten und dann mit Tunis, mußten, da zur Schau getragene Brüderlichkeit in der arabischen Welt eine Grundbedingung der Respektabilität ist, ebenso wie Nassers VAR, von widerstrebenden Partnern akzeptiert werden — und aus demselben Grunde scheitern.

Der Libanon aber braucht Syrien und wird Syrien weiterhin brauchen, man sollte sich da nichts vormachen. Die Zerrissenheit dieses Landes kann auf lange Sicht nur zum Zerbrechen führen — wenn es nicht von einem mächtigen Dritten, einem Vermittler und Schiedsrichter, zusammengehalten wird. Kommentatoren, die Präsident Assad die Absicht unterstellten, das Zerfallen des Libanon zu verhindern, um ein rechtsorientiertes christliches Teilgebiet und damit einen amerikanischen Machtgewinn zu verhindern, mögen recht, dürften aber kaum das beherrschende Motiv des syrischen Präsidenten erfaßt haben. Wahrscheinlicher ist, daß er in der Vermittlerrolle im Libanon die historische Chance erkannte, einen Einfluß auf die libanesische Politik zu gewinnen, der keinesfalls nur oder auch vorwiegend auf den Maschinengewehren und Granatwerfern seiner Armee beruhen muß.

Es ist durchaus möglich, vielleicht wahrscheinlich, daß die syrischen Truppen den Libanon wieder verlassen und daß die verfassungsmäßigen Einrichtungen des Landes wieder zu funktionieren beginnen, eine neue Koalitionsbasis nach neuem Verteilungsschlüssel zustande kommt. Aber der Nahe Osten wird nachher nicht mehr das sein, was er vor dem Ausbruch des libanesischen Gemetzels war. An einem engen Aneinanderrücken der beiden Länder, unter Assads Fittichen, dürfte kaum mehr zu rütteln sein.

Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger als das Aufrücken der Landeshauptstadt Damaskus zu einem weiteren nahöstlichen Machtzentrum, und notabene einem, das heute über größere außenpolitische Handlungsfreiheit verfügt als Kairo. Auch Israel wird, eingestanden oder nicht, zwischen den Schwerpunkten der arabischen Welt ein neues Gleichgewicht suchen müssen.

Wenn überhaupt Hoffnung auf einen nahöstlichen Frieden möglich ist, kann sie nur von der Annahme ausgehen, daß auch Assad nicht jener machtlüsterne und unkontrollierte Despot ist, den so viele Europäer, die den europäischen Hitler verdrängt haben, so gerne in jedem arabischen Staatsmann (heute vielleicht ausgenommen Sadat) sehen. Assad ist offensichtlich auf der Suche nach einer eigenständigen Politik, die es ihm ermöglicht, eine führende Rolle in der arabischen Welt zu spielen. Er läßt sich von den Russen Waffen liefern, aber nicht allzu heftig ans Herz drücken und vermeidet es auch, die USA unnötig zu verärgern. Sein Einmarsch in den Libanon bedeutet für ihn den Aufstieg zur Ordnungsmacht und ein sicher sehr erhebliches außenpolitisches Erfolgserlebnis. Wenn man es genau betrachtet, eigentlich sein erstes.

Ein syrisch-israelisches Entflechtungsabkommen über den Status quo hinaus dürfte vorerst schwer möglich sein, da Assad sicher wenig Wert darauf legt, die Erfahrungen, die Sadat mit seiner Friedenspolitik im arabischen Lager gemacht hat, zu wiederholen. Aber sein ganzes bisheriges Verhalten, und vor allem in den letzten Wochen, deutet darauf hin, daß auch er einen neuen Waffengang mit Israel nicht will.

Das bedeutet bestimmt keinen Frieden — dem steht das Palästinenserproblem im Wege. Aber man würde Assad mißverstehen, hielte man seine Aufwertung, Syriens Aufstieg zur Ordnungsmacht, notwendigerweise für einen weiteren Schritt zum nächsten Krieg. Vielleicht ist genau das Gegenteil der Fall. Man kann es hoffen. Das ist im Nahen Osten schon viel.

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