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Ein paar recht sympathische Leute

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Helga stellte die Gartensessel nicht im Kreis auf. Diese Anordnung weckte in ihr einen Widerwillen, weil sie eine Aufforderung an die Gäste war, einander unaufhörlich zugewendet zu sein. Ein Kreis war so ausweglos, ohne Anfang und ohne Ende, eine geschlossene, totalitäre Figur. Es war schwierig, ihn aufzubrechen und ihm zu entrinnen.

Bei den Dorfmeisters standen die Sessel immer im Kreis. Damit drückten sie arglos und unmißverständlich aus, was sie sich erwarteten, wenn sie Gäste einluden. Sie legten Wert auf einen gemeinsamen Mittelpunkt, ge

man gemeinsam den Zigarettenrauch blies.

Sie waren Leute, denen man nicht böse sein konnte. Sie waren so rührend um jeden bemüht, der zu ihnen kam. Man mußte vor ihnen aber auch auf der Hut sein, weil der Drang nach Geselligkeit bei ihnen schon eine Sucht war. Wenn sie auftischten, hatte Helga oft das Gefühl, daß sie Futter streuten, um Menschen einzufangen und festzuhalten. Vielleicht war sie gerade deswegen ziemlich vereinsamt.

Es lag an ihrem betonten G

tssinn, daß sie für Helga immer noch die „Dorfmeisters“ waren, dieser abgeschmackte Sammelbegriff aus dem Vokabular für Besuche und Gegenbesuche. Weil Helga jeden einzelnen von ihnen mochte, bemühte sie sich, ihnen ihre wirklichen Namen zu geben, wenn sie an sie dachte. Da war Rudi mit seinem weichen Gemüt, den seine danebengegangene Karriere bedrückte und der dankbar war, wenn man ihn erzählen ließ, welche Umstände sich ihm in den Weg gestellt hatten. Da war Hildegard, seine energische Frau, die fand, daß das kein besonderes Unglück war, wenn sie nur ihr Auskommen und ihren Freundeskreis hatten. Da war Gerda, die Spezialistin für den Humor, die nur ausgefallene Meinungen von sich gab, aber im Jahresdurchschnitt doch immer die gleichen, und schließlich war da noch Benno mit seinem Allgemeinwissen. Jedej; einzelne von ihnen war eine Person mit überwiegend sympathischen Eigenschaften, die es ihm ermöglichten, einzigartig zu sein und sich deutlich vom Hintergrund abzuheben. Aber sobald man sie aus den Augen ließ und ohne genügende Trennschärfe an sie dachte, rotteten sie sich eilig zusammen und standen unerschütterlich als die Dorfmeisters in der Welt. Sie waren zwei Brüder, die zwei Schwestern geheiratet hatten. Konstantin hatte sie in die Ehe mitgebracht.

Weil Helga und Konstantin spät geheiratet hatten, war jeder von ihnen schon sehr komplett mit Dingen und Menschen ausgestattet, von denen er sich nicht mehr gern trennte. So hatten sie seine und ihre Freunde zusammengetan und bemühten sich, sie zu gemeinsamen Freunden zu machen. Bei einigen gelang es, bei einigen nicht, und wenn es mißglückte, war es meistens ein gewaltloser Vorgang. Man entfremdete sich langsam und einsichtsvoll.

Auf einmal hatten sie neue Freunde, die sie miteinander gefunden hatten. Das waren die eigentlichen Freunde, auf die es ankam. Sie dachte an die Faszination, die am Anfang jedesmal dagewesen war, an die unbeschwerte und festliche Stimmung beim ersten, zweiten und dritten Beisammensein, an die Zeit der Entdeckerfreude, die selbstverständlich vorbeiging. Nachher kam die Gewöhnung, die zu zwangloser Freundschaft führte. Man konnte für keinen Menschen fortwährend neu sein und konnte es folglich auch von ihm nicht erwarten. Auch Konstantin war nicht mehr neu für sie. Sie schaute ihn an, wie er in sein Buch vertieft war und offensichtlich nicht gestört werden wollte. Ein Anlaß, gekränkt zu sein? Ganz im Gegenteil.

Sie hatten Glück miteinander gehabt. Das ersparte ihnen den dummen, niederträchtigen Vorwurf, daß sie einander nichts mehr zu sagen hatten. Es gab immer wieder etwas Mitteilenswertes, nur unbedingt notwendig war das Reden nicht.

Je länger Helga lebte, desto klarer wurde es ihr, daß sie vor fast allen Leuten, die sie kannte, einen unauffälligen, aber großen Vorteil hatte: Wenn sie allein war, langweilte sie sich nicht. Sie brauchte kein Radio und kein Fernsehgerät, und es war auch nifcht notwendig, daß sie etwas zu lesen hatte. Das waren Notbehelfe, Gesellschaftsersatz. Sie aber konnte wirklich ganz allein sein. Sie konnte stundenlang einen Baum anschauen, wie der Wind sich in ihm verfing oder wie er blühte. Dabei hörte sie manchmal das Muschelrauschen der Welt. Ein Mensch neben ihr, zum Beispiel Konstantin, störte sie nicht, sofern sie nicht spürte, daß ihn die Stille unruhig machte und daß er darauf wartete, daß sie sie brach. Ich bin ungesellig, dachte sie oft. Aber so einfach und eindeutig war es auch nicht. Sie war froh, daß sie viele Freunde hatte, und war darauf bedacht, sie nicht zu kränken. Sie mochte die Menschen, aber sie brauchte sie nicht.

Und sie stellte die Gartensessel nicht im Kreis auf - nein! Jeder sollte die Möglichkeit haben, für sich zu sein, durch Worte und Blicke erreichbar, wenn es darauf ankam, aber nicht schon am Anfang in eine Zwinge gespannt.

Es läutete an der Tür. Die Dorfmeisters kamen. Sie waren überpünktl

jedesmal und brachten viel zu viele Geschenke mit: die unvermeidlichen Blumen, Whisky und Wein, dazu eine doppelstöckige Bonbonniere - es nützte nichts, wenn man ihnen verbot, das zu tun. Das nächste Mal kamen sie wieder mit großen Geschenken.

Sie waren eine sonderbare Gemeinschaft, ein Doppelehepaar, das zu viert miteinander lebte und nur in intimsten Belangen die Zweisamkeit aushielt. Die Einsamkeit mußte für sie ganz unmöglich sein, etwas Grausiges, Unvorstellbares, schon ganz nahe dem Nichtsein. Aber auch ihre Viersamkeit war ihnen nicht mehr genug. Sie trieben verzweifelt aneinandergeklammert dahin, als ein großes, unabgesät- tigtes Molekül, das sich mit einem anderen zusammentun wollte. Solange sie das nicht konnten, litten sie. Sie hingen mit großer Treue an Konstantin. Er hatte Mitleid mit ihnen und ertrug sie, und sie bemühten sich sehr, es ihm zu danken. Sie waren gutherzig, höflich und kultiviert. Es strahlte eine Wärme von ihnen aus, die nicht zuließ,

daß man sich gegen sie verschloß. Man käme sich unmenschlich dabei vor, dachte Helga.

Vierstimmig lobten sie das Abendessen. Es klang ehrlich und war es wohl auch - wie jedesmal. Es wäre leichter gewesen, sie loszuwerden, wenn sie nicht so herzensfreundlich gewesen, x wären. Denn loswerden wollte sie Helga schon lange, und Konstantin wollte es eigentlich auch. Aber die Dorfmeisters hüteten sich, ihnen dazu einen brauchbaren Vorwand zu liefern.

Die dringliche Gegeneinladung kam, noch ehe die Nachspeise auf dem Tisch war. „Wann kommt ihr wied

uns? Ihr müßt bald wieder einmal kommen. Nein, ihr macht uns überhaupt keine Scherereien, bestimmt nicht.“

Einmal hatte sich Helga bemüht, ihnen klar zu machen, daß es eine absonderliche Sorte von Menschen gab, für die die Geselligkeit nichts Lebensnotwendiges war. Das war ihnen anscheinend so absurd erschienen, daß sie gar nicht richtig zugehört hatten.

„Also, wann kommt ihr? Fixieren wir gleich den Termin.“ Hildegard war von dem Thema nicht wegzulocken. Helga hatte drei Ausreden ausgedacht, die reichten für die nächsten drei Wochenenden. Für das vierte Wochenende wurden sie zwangsverpflichtet. Es war eine große Feigheit, nicht einfach zu sagen: „Kinder, seid uns nicht böse, wir mögen nicht.“ Sie konnten es nicht, so wie sie nicht töten konnten.

In vier Wochen also! Sie wußten, was ihnen bevorstand. Sįie würden geehrt werden wie ein Kronprinzenpaar, mit Augartenporzellan und Tafelsilber, mit allen Begleitumständen einer unbarmherzigen Freundschaft. Und dann kam schon wieder die Zeit für die Gegenverpflichtung, in der sie die Dorfmeisters förmlich warten spürten und in der die Gewissenslast fortwährend wuchs, bis sie wie eine Lawine überhing. Wir werden sie wieder ein- laden müssen. Ja, leider, aber ein bißchen warten wir noch. Sie taten es nur, um es hinter sich zu bringen.

Diesmal hatten sie es noch nicht hinter sich. Der Abend hatte gerade erst angefangen, so ein schimmernder Sommerabend, der nie ganz zur Nacht wird. Resigniert schickte Helga sich an, ihn aufzuopfern. Sie sah alles voraus, was er bringen würde, vor allem den .unverzüglichen, entschlossenen Ruck, mit dem sie die locker gruppierten Gartensessel in die von ihnen bevorzugte Stellung brachten. Und dann stellten sie wieder einen Freundeskreis dar.

Sie igeln sich ein, dachte Helga. Sie haben Angst vor der Nacht. Sie zirkeln in ihr eine magische Figur ab, in die das abgrundtief Dunkelblaue mit seinen großen Sternbildern nicht hereinkam. In diesen kreisrunden Tümpel zwischen ihnen rinnt ihr Geschwätz, das gleiche seit Jahren. Die Langeweile brach aus, erstickend und grausam. Es war unfaßbar, daß diese Leute sie nicht bemerkten. Sie selbst war schon ganz erschöpft von dem Zwang, beieinanderzuhocken. Sie wollte, sie mochte nicht. Sie wurde entsetzlich mißbraucht. Immer wieder zahlte sie auf die gleiche Art für etwas, das sie sich hatte aufdrängen lassen. Sie wünschte sich brennend eine Gelegenheit, etwas Kolossales für diese Leute zu tun, sie zum Beispiel Stück für Stück aus dem Fenster zu retten, damit sie von dem Guthaben, das sie sich so erwarb, ihre Verpflichtun

alle Zeit abbuchen konnte. Nachher könnten sie sogar wirkliche Freunde sein.

Es war schon beinahe Mitternacht. Immer wieder rauchte einer die letzte Zigarette, und ehe er damit fertig war, zündete sich ein anderer eine andere an, die gleichfalls die letzte sein sollte und es nicht war. In den Gläsern wurden die Weinreste ängstlich gehütet. Kein Aufbruchssignal war endgültig, keines ernsthaft. Immer wieder geschah es, daß jemand schuldbewußt ausrief, um Gottes willen, es sei schon so spät, und sie müßten jetzt gehen. Immer wieder lüftete ein Gast sein Gesäß, verkündete, daß er entschlossen war, ernst zu machen, wartete voll Vertrauen auf einen Protest und war so verblüfft darüber, daß keiner kam, daß er sich wieder niedersetzte. Jetzt wurden schon alte und neue Witze err zählt. Die Notration an Vorwänden, noch zu bleiben, wurde verbraucht. Und jetzt stand Helga mit einem beherzten Ruck auf, ging zu Benno, der gerade dabei war, sich die endgültig letzte Zigarette zu gönnen, nahm sie ihm aus dem Mund, zertrat sie und sagte: „Schluß jetzt!“

Sein Blick war entgeistert und jämmerlich und wollte wissen, was das zu bedeuten hatte. Alle vier Dorfmeisters machten die gleichen Augen.* Verstört saßen sie umher, wie aus seligem Traum geschreckt. „Ich werfe euch nämlich hinaus“, sagte Helga. Da gingen sie wie eine Trauergemeinde.

„Ich hätte das auch gern getan“, sagte Konstantin. Sie ließ sich in seine Arme fallen und lachte.

Selbstverständlich büßte sie dafür auf die banalste Art. Ihr biederes, allzu gewissenhaftes Gewissen war unangenehm berührt und mißbilligte ihre Tat. Ihren Gedankengängen, die ihm beweisen sollten, daß sie in Notwehr gehandelt hatte, folgte es nicht. Sie sind zudringlich! Aber sie sind es in aller Unschuld. Sie sind egoistisch. Ja, aber du bist es auch. Sie hätten sonst nie kapiert. Sie verstehen auch jetzt noch nicht…

Es half nichts, sie mußte um Entschuldigung bitten. Auch Konstantin fand, daß es nicht zu umgehen war, und gab zu, daß er ebenfalls ein schlechtes Gewissen hatte.

Als Helga die leidige Telefonnummer wählte und das intermittierende Läuten im Hörer erklang, spürte sie deutlich den Aufruhr von Hoffnung drüben. „Hier bei Dorfmeister“, sagte Hildegard. Ihrem Atem war anzumerken, daß sie gelaufen war.

Helga bat, ihr nicht böse zu sein, sie hätte Kopfweh gehabt. Als Ausrede für diese Leute genügte das. Die Erklärung wurde glückselig angenommen. Das Gewissen fühlte sich wie der liebe Gott.

„Und es bleibt dabei, daß ihr in vier Wochen zu uns kommt.“

„Natürlich“, sagte Helga. „Wir freuen uns schon.“

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