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EIN PÄDAGOGISCHER LUFTBALLON?

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Eine krumme Reihe bunter Luftballons, in denen schülerhafte Großbuchstaben stehen: ein A, ein U, ein T, zwei O und noch andere. Dekoration für einen Kinderball? - Nein, das Titelblatt für eine Schrift des Unterrichtsministeriums: AUTONOMIE. Man schlägt sie auf, überfliegt das Vorwort von Minister Schölten und bleibt belustigt an folgendem Satz hängen: „Zweifellos bedarf die Diskussion im Hinblick auf einen ersten größeren Schritt der Verwirklichung eines Wirklichkeitssinnes, der sich vom Gesichtspunkt leiten läßt, daß die beabsichtigten Entwicklungsschritte nicht durch ungewollte Nebenwirkungen in Frage gestellt werden dürfen."

So karnevalesk das auch ist, das Wort AUTONOMIE liest man gern: endlich eine Schule, die nicht fremd-und politbestimmt ist, sondern autonom und frei! Mehr als zwanzig Jahre warten wir darauf, seit über die Schule das hereingebrochen ist, was ihre Täter als „Reform" ausgeben. In Wahrheit hat man die früher vorbildliche Schule Österreichs von Grund auf ruiniert.

Manche Eltern von Kindern, die schon zur Schule gehen, haben damals die Schule noch gar nicht besucht und wissen kaum, was es 1969 noch gab:

□ Aufnahmeprüfung in die Mittelschule (jetzt AHS)

□ eigene Lchrpläne für Mittelschule und Hauplschule

□ in der Hauptschule einen Ersten und einen Zweiten Klassenzug

□ lauter positive Noten als Voraussetzung zum Aufsteigen

Manche mögen jubeln über die seither eingetretene Liberalisierung, Integrierung oder wie immer die Propagandaparole dafür lauten mag. Weniger jubeln die immer zahlreicheren Maturanten, die mangels Arbeitsplatz sich auf irgendein Studium einlassen müssen. Weniger jubeln die Eltern, die mit ihren Kindern aus der zur Restschule verkommenen Hauptschule flüchten.

Das waren Zeiten!

Weniger jubelt die Wirtschaft, die Facharbeiter überhaupt nicht mehr findet oder Leute einsetzen muß, die -wie eine Linzer Studie kürzlich nachwies - in Schreiben, Lesen und Rechnen haarsträubende Unkenntnisse haben. Dazu der mehr als haarsträubende Kommentar von Minister Rudolf Schölten im Schülerparlament: „In dieser Studie wird nur herumgeblödelt."

Nun legt Minister Schölten - als Reaktion auf das Desaster von 22 Jahren sozialistischer Schulpolitik oder als deren Krönung? - seine Broschüre mit dem Regenbogen-Luftballon-Cover AUTONOMIEvor. Wird auch hier nun.herumgeblödelt"?

Erstes Beispiel für die Nutzung der durch Schulautonomie geschaffenen Freiräume ist das Projekt einer steiri-schen Hauptschule. Dauer: zwei

Schuljahre. Betroffene Fächer: Deutsch, Englisch, Mathematik, Biologie sowie Realien.

Höhepunkte des Verlaufs: Fragebogen über die eigenen Frühstücksgewohnheiten, die Ernährungs- und Lebensgewohnheiten der Familie, die Menüzusammenstellungen der örtlichen Gasthöfe; Organisation eines Schulbuffets mit Vollwertprodukten, Aufführung des Stückes „Der Hungerleider und der Freßsack"... Bei aller Wertschätzung von Vollwertprodukten - lassen sich zwei Schuljahre in so vielen Gegenständen für die Erarbeitung von Grundkenntnissen auf wesentlicherenGebieten nicht sinnvoller nützen?

Projekte sind schön, aber sie kosten Zeit, und die ist knapp. Schölten weiß aber, woher man sie nimmt: Kürzung der bisher 133 Pflichtwochenstunden der vier Jahre von AHS-Unterstufe und Hauptschule auf 130. Weitere Kürzung um acht Stunden für „Typenbildung" und um zwölf für „Ver-iügungsstunden", in denen - siehe oben! - offenbar auch „herumgeblödelt" werden darf. Und was wird bei diesem Aderlaß an Wochenstunden schließlich verbluten? Wer wird bei dieser Art von AUTONOMIE die Autonomie haben, darüber zu entscheiden? Die Lehrer, die dafür ausgebildet sind und dafür auch bezahlt werden?

Scholtens Broschüre deutet listig ganz etwas anderes an: „Daher bedürfen die konkreten Modalitäten der Einbindung von schulpartnerschaft-lichen Einrichtungen einer rechtlichen Klärung."Im Klartext kann das nur heißen: Nicht die Lehrer, auch nicht die Eltern und die Schüler in ihrer Gesamtheit sollen entscheiden, sondern der drittelparitätische SGA(Schulge-meinschaftsausschuß). In ihm sind die Lehrer die Minderheit, und es fragt sich, welche Eltern- und Schülerfunktionäre ihn besetzen werden. „Ausschuß" oder „Rat" heißt auf russisch „Sowjet".

Geht es, nachdem die marxistische Gesamtschulstrategie trotz aller Nivellierung ihr Ziel noch immer nicht ganz erreicht hat, bei der vorgeblichen AUTONOMIE um eine Sowjc-tisierung von innen? Ist sie flankierende Maßnahme zur neuesten Ungeheuerlichkeit, die Schölten durchsetzen will - automatisches Aufsteigen trotz „Nicht genügend" in drei vom Ministerialentwurf vorgeschlagenen Varianten: a) alle vier Jahre, b) jedes zweite Jahr, c) jedes Jahr?

Was also ist AUTONOMIE? Nur ein bunter Luftballon oder der neueste sozio-pädagogische Sprengsatz zum Ruin unserer Schule?

Dr. Walter Marinovic war bis 1989 Professor für Deutsch und Latein. Mitglied des Zenlra-lausschusses für AHS-Lehrer und. Bundesoh-mann des parleiunabhängigen Verbandes der Professoren (VdPÖ); er ist jetzt Ehrenobmann des VdPÖ.

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