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Ein Papst im DÜemma

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Historiker sehen - anders als der Dramatiker Rolf Hochhuth - aufgrund der vom Vatikan veröffentlichten Akten in Papst Pius XII. einen Helfer der Verfolgten (siehe auch Seite 11).

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Historiker sehen - anders als der Dramatiker Rolf Hochhuth - aufgrund der vom Vatikan veröffentlichten Akten in Papst Pius XII. einen Helfer der Verfolgten (siehe auch Seite 11).

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1958, als Pius XII. starb, schrieb Israels Außenministerin Golda Meir: „Als für unser Volk im Jahrzehnt des Naziterrors das furchtbare Martyrium anbrach, erhob der Papst seine Stimme zur Verurteüung der Verfolger und in Barmherzigkeit für die Opfer.“ Und Martin Niemöller bekundete: „Wir sind Papst Pius über seinen Tod hinaus... tief dankbar.“ Was sie sagten, entsprach dem verbreiteten Bild. Papsttum und Papst hatten zu Lebzeiten Pacel-lis eine ganz hohe Akzeptanz — weit über die katholische Kirche hinaus.

1963 löste ein bis dahin unbekannter liberal-protestantischer Dichter mit seinem Erstlingsdrama „Der Stellvertreter“ in nahezu der gesamten westlichen Welt einen beispiellosen Umschlag der öffentlichen Meinung aus.

Rolf Hochhuth legte keine beweiskräftigen historischen Tatsachen vor. Gleichwohl erhob sein fiktionaler Text, der wirkungsvoll mit humanitär-gesinnungsethischen Argumenten arbeitet, den ausdrücklichen Anspruch, über alle dichterischen Freiheiten hinaus den eigentlichen Kern der geschichtlichen Wahrheit zu bie^ ten. Sie hieß: Aus moralisch verwerflichen Gründen hat Pius XII. es versäumt, angesichts der nationalsozialistischen Judenermordung das öffentliche Zeugnis abzulegen, das ihm vom Amte her geboten gewesen wäre. Autoritäre Persönlichkeits struktur, Institutionenegoismus der Kirche (vordringliche Rücksichtnahme auf die Finanzen des Vatikans) und falsche politische Orientierung (Antikommunismus) hätten ihn schweigen lassen, als sein Sprechen die Juden vor den Vernichtungslagern hätte bewahren können.

Mit dieser Botschaft faszinierte Hochhuth viele. Niemöller schrieb jetzt, er sei für dieses Drama „froh und dankbar“. Viele tausend Leserbriefe sagten ähnliches. In über vierzig Büchern wurde die Hochhuth-Diskussion in allen großen Sprachen weitergeführt. Ob man dabei über geschichtliche Tatsachen oder über Hypothesen oder gar nur über historisch weder beweis- noch widerlegbare Denkmöglichkeiten diskutierte, diese Grundfrage eines vernunftorientierten Dialogs, wurde kaum bedacht. Professionelle Historiker nahmen wenig teil, weil ihnen die einschlägigen Quellen fehlten.

Als Saul Friedlaender 1964 versuchte, Hochhuths Grundthese vom Antikommunismus als einer handlungsleitenden Priorität des Papstes wissenschaftlich zu untermauern, glitt er ziemlich aus: Er hatte sich naiv, ohne innere Quellenkritik, auf Akten gestützt und nahm die „taktischen Lügen“ der amtlichen Berichterstattung des deutschen Vatikanbotschafters Ernst von Weizsäcker, der von 1938 bis 1943 Staatssekretär im Auswärtigen Amt gewesen war, für bare Münze.

Dennoch hat die Hochhuth-De-batte der seriösen Zeitgeschichtsforschung dauerhaften Nutzen gebracht; denn der Heilige Stuhl hat seit 1965 eine voluminöse, vor einigen Jahren abgeschlossene Edition seiner wichtigen Akten von 1939 bis 1945 publiziert. Sie bedarf noch einer gründlichen monographischen Verarbeitung, die inzwischen im Gange ist. Die für Hochhuths Drama zentralen Geschehnisse der römischen Judenverhaftungen durch eine Sondereinheit der SS am 16. Oktober 1943 (IV. Akt) ist dort in Band IX (1975) dokumentiert.

Außerdem hat der Kanadier Leonidas E. Hill 1976 die privaten Weizsäcker-Papiere publiziert. Dieses Material, zusammen mit Renzo de Felices Geschichte der Juden in Italien (1961), einer wichtigen Studie Robert Grahams (1970) und der anderen Zeugnisse hat ein führender englischer Historiker, Owen Chadwick, Regiüs Professor of Modern History in Cambridge, 1977 zu einer Klärung der Oktobervorgänge 1943 herangezogen, über die kaum hinauszukommen sein dürfte.

Demnach bleibt von Hochhuths Konstruktionen in allen wichtigen Punkten nichts übrig — die konkrete Situation war ganz anders. Es waren der Papst und seine Mitarbeiter, die durch Einschaltung des notorisch NS-freundlichen Rektors der Anima, Aloys Hudal, in einer mit Weizsäcker kooperierenden Aktion bewirkten, daß die meisten Juden in Rom nicht verhaftet und daß ein kleinerer Teil der schon Verhafteten nicht deportiert wurden.

War das ein „Erfolg“? Für die Geretteten wohl — aber für die anderen? Von den über tausend deportierten römischen Juden sind nur vierzehn Männer und eine Frau zurückgekehrt. Hätte man die übrigen auch retten können? Soweit der Historiker - historisch - urteilen kann, war der Verzicht des Papstes auf einen spektakulären öffentlichen Protest eine unerläßliche Bedingung, um wenigstens das Übel einzugrenzen und den größeren Teü der römischen Juden vor der Verhaftung und etwa ein Sechstel der Verhafteten vor der Deportation zu retten, wobei die Drohung mit einem öffentlichen Protest des Papstes, falls die Verhaftungen nicht sofort eingestellt würden, eine wichtige Rolle spielten.

Bei seiner Güterabwägung am 16. Oktober 1943 befand der Papst sich offenkundig in einem echten Dilemma. Und so war es in den Kriegsjahren fast immer. Die konkrete Alternative hieß nicht: Reden oder Schweigen, sondern: wie deutlich muß das mir vom Amt her gebotene Wort sein, und wie konkret darf es sein, wenn ich an die Folgen denke.

Der Papst hat im Krieg durchaus auch „gesprochen“, etwa am 24. Dezember 1942 und am 2. Juni 1943. Rund 70 bis 90 Prozent der in Europa vor der Ermordung Geretteten (rund 700.000 bis 850.000 Menschen) verdanken ihr Leben Maßnahmen, die von katholischer Seite erfolgten (Pinchas Lapide) —natürlich nicht alle vom Vatikan inauguriert, aber vom Papst immer wieder ermutigt, unterstützt und mitgetragen.

Das waren gewiß „Erfolge“ -aber reichen sie aus? Pius XII. urteilte in diesem Punkt sehr vorsichtig. „Es ist“, schrieb er 1944 dem Kölner Erzbischof Joseph Frings, „oft schmerzvoll schwer zu entscheiden, ob Zurückhaltung und vorsichtiges Schweigen oder offenes Reden und starkes Handeln geboten sind: all das quält uns noch bitterer als die Gefahren für Ruhe und Sicherheit im eigenen Haus“.

Dies war seine wirkliche, konkrete Situation. Pius XII. richtete sein Handeln nach einer Güterabwägung, deren moralische Prinzi-“ pien schwer anzugreifen sein dürften - in vollem Wissen darum, wie schmerzvoll schwer es sein kann zu entscheiden, was je-weüs politisch richtig ist.

Der Autor ist Professor für Mittelalterliche und Neuere Geschichte der Universität Bonn.

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