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Ein Philosoph aus Prag

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Um drei Achsen kreist nach Ansicht des tschechischen Phüosophen Jan Patocka (1907 bis 1977) die europäische Bildung: um das Kontemplative, vertreten durch die griechische Antike, um das Ethisch-Religiöse, im Christentum am tiefsten erfaßt, und um das Intellektuelle, dargestellt durch die moderne Vernunft, durch Wissenschaft, Technik und staatspolitische Praxis. Am Leitfaden dieser drei Moti-

ve, die zugleich Hauptelemente seines philosophischen Bemühens bedeuten, untersucht der Prager Denker Jan Patocka die kulturelle Entwicklung seines Volkes, bestimmt Bezüge zu den anderen Völkern des „alten Europa“ zwischen Rhein und Weichsel etwa in einem Aufsatz aus dem Jahr 1939.

Es ist dies der früheste von rund dreißig Beiträgen, die unter dem

programmatischen Titel „Kunst und Zeit“ als erster Band der .Ausgewählten Schriften“ vom Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen jetzt vorgelegt wurden.

Die Herausgeber Klaus Neuen und II ja Srubar ermöglichen damit einem deutschsprachigen Publikum, Arbeiten des Denkers aus vier Jahrzehnten zu studieren.

Ilja Srubars Essay „Zur Stellung der Kunst in Patockas Philosophie“ sowie eine kommentierende thematische Ubersicht des bekannten Phänomenologen Walter Biemel dienen als sachkundige Einleitung. Der erste umfangreichste Teil „Zur Rolle der Kunst in der Entwicklung des kulturellen Selbstverständnisses in Europa“ vereint Patockas syste-

matische Versuche zu Kunst und Zeit, Mythos und Glaube, Stilepochen und Spräche mit werkbezogenen Betrachtungen zu bedeutenden Gestalten der Kulturgeschichte wie Piaton oder Johann Comenius, Goethe oder Thomas Mann, und besonders Friedrich Hegel, um nur wenige zu nennen. Im zweiten Teil „Uber den Beitrag der Kunst zur tschechischen Identität“ wird exemplarisch die Auseinandersetzung des Denkers mit der Bildung und mit Kulturströmungen seines Volkes an systematischen und aktuellen Stellungnahmen sowie anhand philosophischer Literaturanalysen dargestellt

Hier leisten die Erläuterungen der Herausgeber zu Namen und Fakten des tschechischen Milieus

dem deutschsprachigen Leser wertvolle Verständnishilfe.

„Notizen zu Zeitgenossen“ heißt der dritte und letzte Teil der Studie. Ontologische und anthropologische Überlegungen Patockas zu Werken Roman Ingardens, Arnold Gehlens, Herbert Reads und Michel Foucaults stehen hier im Mittelpunkt

Nach ebenso anspruchsvoller wie ansprechender Lektüre gelangt man zur frohen Gewißheit eines gewichtigen Fundes.

Die umfassende, ausgewogene Bildung des Phüosophen, seine Sensibilität für Glanz und Elend des europäischen Schicksals, seine klare Unterscheidungs- und präzise Beschreibungsfähigkeit bereichern gerade das auflebende Gespräch in und um Mitteleuro-

pa. Dies umsomehr, als Patocka einerseits gut mit der dialektischen Schärfe seines Lehrmeisters Hegel umzugehen versteht, sich andererseits aber vor ideologischen Fixierungen im Gefolge dieses Denkens hütet.

Denn zum „Leben des Geistes“ (Hegel) gehört für ihn unabdingbar ein Körper jeweils konkreter „Lebenswelt“, zu der ihn die Philosophie Edmund Husserls inspirierte. Die Notwendigkeit stets neuen Weltentwurfs lehrte ihn Martin Heidegger. Seinem Beispiel folgend suchte und fand er das je „Ganze erlebter Weltgestalt“ (Patocka) am reinsten in der Kunst

Die poetische Erfahrung der Dichtung im besonderen ist für Jan Patocka gleichermaßen pädagogisches Medium wie Gegenstand philosophischer Meditation. Sein Werk ist ein bedeutender Beitrag zur Philosophie unseres Jahrhunderts.

KUNST UND ZEIT. Von Jan Patocka. Herausgegeben von Klaus Neuen und Ilja Srubar. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1987. 600 Seiten. öS 1.154.-.

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