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Ein Plädoyer für die Phantasie

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Die „sexuelle Revolution“, die in den letzten Jahrzehnten oft als wesentliche Ingredienz so vieler Befreiungsbewegungen aufgetreten war, hat allmählich ein wenig Patina angelegt. Es ist auch allmählich wieder ins Bewußtsein gedrungen, daß Sex und Erotik nicht unbedingt miteinander identisch sein müssen, und daß die völlige Freisetzung des

Ersteren zu einer Verkümmerung der Letzteren führen kann. Genau diese These untersucht Werner Ross in seinem geistreichen Buch „Tod der Erotik. Versuch einer Bilanz der sexuellen Revolution“. Dabei gelingt es dem deutschen Kulturphilosophen, das Thema mit der gebotenen Gründlichkeit zu behandeln und zugleich mit unbekümmerter Frische neu zur Diskussion zu stellen.

Hat die Welle der sexuellen Befreiung — im Namen von Selbstverfügung, Emanzipation, Autonomie, Abbau von repressiven Beschränkungen oder was auch

immer - der Erotik gutgetan oder ihr nicht vielmehr einen nur schwer wiedergutzumachenden Schaden zugefügt? Dieser Frage sucht Ross aus verschiedenen Perspektiven nachzugehen, wobei ihm ernsthafte Sorgen um den geheimnisvollen und nie restlos rational zu durchdringenden Bereich des Eros ebenso am Herzen liegt wie die Befürchtung, die Freisetzung der Sexualität habe uns bloß auf eine andere Weise neurotisiert und verklemmt.

Manche sogenannte Sexualforscher werden Ross mancherlei voyeuristische und heuchlerische Tendenzen ebenso unterstellen wie ein Infragestellen der ehernen Werte und Grundlagen des Abendlandes, denn sein Buch stellt die Lustlosigkeit der entzauberten Sexualität in beredter Weise dar und beklagt den Verlust jedweder dionysisch-rauschhafter Grundstimmung, die schon

Nietzsche, wenn auch auf bloß theoretische Art eingefordert hatte: „Es gibt keine Ausschweifung mehr, sondern nur noch das Gerede darüber, keine Pornokratie, sondern nur noch Pornographie, Ersatz, Künstlichkeit, Getue. Die befreite Zeit ist so lendenschwach, daß sie sich ächzend zum nächsten Orgasmus schleppt.“ Denn das, was Eros, was Erotik, bis hin zu seinen in Doppelmoral explodierenden Ausformungen im 19. Jahrhundert gewesen ist, ist einer schlechtfundierten Sachlichkeit gewichen, gleichsam einer Prüderie unter verkehrten Vorzeichen. Viktorianische Totalverhüllung des weiblichen Körpers und von totalitären Regimen gern in An-; spruch genommene Nacktkultur sind nur die zwei verschiedenen Seiten der traurigen Medaille. Durch diese wird der Verlust der Erotik angezeigt. Weder in der

Reduzierung der Geschlechtlichkeit auf die Zweckmäßigkeit der Fortpflanzung, noch in der von allen Tabus und Schranken befreiten ungehemmten Sexualität um ihrer selbst willen kann Eros gedeihen. Gewiß, bisweilen geht Ross ein wenig zu behend mit den von ihm/in Anspruch genommenen Autoren um, verwischt manche Konturen und biegt zurecht, i aber seine Grundthese — das Einsinken in eine Art breiige Mittelmäßigkeit, das Herabkommen der Erotik - bleibt ebenso klar wie unverrückbar. Nahezu liebevoll verweist Ross auf das Alte und Neue Testament, um dessen souveränen Umgang mit der Erotik darzustellen.

Zwischen Prüderie und dem Einerlei eines sexuellen Schlaraffenlandes soll Eros, soll Erotik wieder zu ihrer Entfaltung kommen. Dies ist die Forderung von Ross, der freilich keine Patentre-

zepte bereit hält und dessen unbefangene Betrachtungsweise unserer körperverliebten Zeit auch keine Mahnpredigten entgegenschleudert. Das unendlich gestuf-' te und nuancierte Zwischenreich der Erotik bedarf auch keiner solchen. Alles was hier getan werden kann, ist höchstens das Bereiten von Bedingungen für sein Gedeihen. Diese aber sind ebenso wenig durch Verbote wie durch deren Aufhebung herstellbar, weder durch Triebverzicht noch durch Enthemmung zu kanalisieren.

Was Ross nachdrücklich fordert, ist ein neuer Umgang mit der Erotik, der ihr keine wesensfremden Prinzipien aufdrängen will. Seine kulturhistorische Untersuchung ist Zeitkritik und Appell in einem: ein geistreiches und treffsicheres Plädoyer für die schöpferische Kraft der Phantasie.

TOD DER EROTIK. Von Werner Ross. Verlag Styria, Graz 1986. 120 Seiten, öS 190,-.

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