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Ein Protest-Sammelbecken

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Eine der wesentlichen Ursachen für die Faszination, die die Friedensbewegung in ihrem Aktionismus, ihrer Dynamik und ihren Appellen auf die Jugendlichen ausübt, ist vor allem durch die psychologischen Folgen eines Wertwandels zu erklären, der durchaus mit einer „schleichenden Kulturrevolution" verglichen werden kann.

Dieser Wertwandel lehnt materialistisch ausgerichtete Wertvorstellungen wie Wohlstand, Leistung, Effizienz, Hierarchie, Gehorsam, Qualifikation, Produktivität, Disziplin, technische Perfektion, Karriere, Macht, Status in der Gesellschaft ab und propagiert dafür als bestimmende Bezugspunkte postmaterialistische Werte wie Selbstverwirklichung, Gemeinschaft, Partizipa-

tion, Solidarität, Kreativität, Menschlichkeit und Mitbestimmung.

Folge dieser Neuorientierung sind die Versuche der Jugendlichen, alternative Lebensformen zu entwickeln und zu finden. Mit der Frage nach dem „Wesentlichen im Leben" ist zwangsläufig eine Abkehr von der Wertrangordnung der Älteren verbunden. Vor dem Hintergrund dieser neuen, großangelegte^ Lebensentwürfe muß die Friedensbewegung, die als das große Sammelbecken oder Reservoir jugendlicher Protestformen bezeichnet werden kann, als Ausdrucksform eines postmaterialistischen AntiEstablishment-Bewußtseins charakterisiert werden…

Dabei sind es grundsätzlich vier Problemkreise, die sich in den letzten zehn Jahren verschärft haben und heute nicht nur von Jugendlichen als Krise erkannt werden:

• Die Auflösung tradierter Orientierungs- und Wertmuster („Stille Kulturrevolution");

• die Gefährdung der natürlichen Lebensgrundlagen (Umwelt, Wasser, Luft);

• die Gefährdung durch zunehmende militärische Destabilisie-rung (schwindendes Sicherheitsgefühl, Rüstungswettlauf, Aufrüstungsmaßnahmen);

9 die verschärfte Nord/Südproblematik (Verelendung, Verschuldung, Ausbeutung).

Seit den siebziger Jahren sind diese Konfliktfelder in fast allen westlichen Industriegesellschaften zu registrieren, in deren Spannungsfeld „Neue Soziale Bewegungen" entstanden sind…

Die „Friedensbewegung" rekrutiert sich aus dem Zusammenschluß von lose strukturierten Gruppierungen und Initiativen. Im Gegensatz zu den erwähnten „Neuen Sozialen Bewegungen" ist die Friedensbewegung der beginnenden achtziger Jahre durch das Zusammenspiel bereits bestehender Organisationen als ein entsprechendes Konglomerat entstanden und ist daher kein neues und eigenständiges Phänomen, Nach formalen, organisatorischen Kriterien läßt sich dabei eine etwa dreiteilige Großstruktur in der bundesdeutschen Friedensbewegung erkennen:

• Alte und Neue Linke: Deutsche Kommunistische Partei (DKP), undogmatische Neue Linke;

• Christen und Pazifisten: Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste, Pax Christi u. a.

• Ökologie- und Alternativ-Gruppierungen: Grüne, Bunte Listen, Alternative;

Die Grundmotivation der Friedensbewegung im ganzen kann als weitgehend moralisch-rigori-stisch beziehungsweise radikalethisch beschrieben werden. Charakteristisch für die meisten Gruppen dieser Art ist es, vor allem Ängste und Zweifel zu artikulieren und in „Konkrete Utopien" umzusetzen. Die Gründe für die beachtlichen Erfolge der bundesdeutschen Friedensbewegung mit ihren spektakulären Großdemonstrationen liegen

• in der Konzentration auf den kleinsten gemeinsamen Nenner: Ablehnung des NATO-Doppelbe-schlusses vom 10. Dezember 1979 beziehungsweise der Verhinderung der Stationierung neuer Mittelstreckenraketen des Atlantischen Bündnisses in Europa; • in der Schaffung eines breiten Aktionsbündnisses, das bisher noch nicht zerbrach, weil ideologisch-konzeptionelle Differenzen aus taktischen Gründen zurückgestellt werden konnten.

Bemerkenswert ist die Tatsache, daß es in der Friedensbewegung der BRD keine mehrheitlich akzeptierte Strategie und Taktik gibt und die Vorstellungen über Wege und Ziele der Friedensarbeit völlig unterschiedlich sind (Grüne kontra DKP; christlichpazifistische Gruppierungen kontra K-Gruppen)…

Vor diesem Hintergrund zeichnet sich innerhalb der Friedensszene der Grundkonflikt zweier unterschiedlicher Strategie- und Taktik-Konzeptionen ab:

Entweder argumentative Uberzeugungsarbeit gegen die „Nachrüstung" oder Aktionen wie „Sit-ins, Die-ins", Demonstrationen und Großkundgebungen, Oster-märsche, plebiszitäre Aktionen oder direkte gewaltfreie Aktionen gegen Militäranlagen, wie sie für dieses Jahr in der Bundesrepublik bereits geplant sind.

Was nun die kommunistische Einflußnahme in der bundesdeutschen Friedensbewegung betrifft, so vertritt die DKP mit ihren Organisationen ganz offen und kompromißlos den orthodoxen, so-wjetisch-orientierten Kommunismus und befolgt linientreu die politische Zielsetzung von SED und KPdSU. So intensivierte sich zwangsläufig die Agitation und Propaganda gegen den NATO-Doppelbeschluß und wurde zum wichtigsten Thema kommunistischer Massenarbeit und Bündnispolitik …

Die moskautreuen Kommunisten sind die aktivste und am straffsten geführte Gruppierung der Friedensbewegung. Sie sind zwar quantitativ eine Minderheit, haben jedoch klare Zielvorstellungen und verfügen über einen Kaderapparat und genügend finanzielle Mittel.

Es muß jedoch bezweifelt werden, ob es der DKP und ihrem Einflußbereich gelingen wird, die zahlreichen Gruppierungen der Friedenswegung mit ihrer Meinungsvielfalt für eindeutig kommunistische Nahziele zu gewinnen. Die konfessionellen und alternativen Gruppierungen der Friedensbewegung lehnen aus emotionalem und ideologischem Unbehagen alle straff disziplinierten und streng hierarchisch gegliederten Organisationen kommunistischer Prägung ab. Polen und Afghanistan sind Hypotheken sowjetischer Machtpolitik, die eine Annäherung unmöglich machen.

Kommunisten planen also mit, organisieren mit, demonstrieren mit, prägen aber bisher weder die Gesamtszene der Friedensbewegung noch vermitteln sie entscheidende Ideen.

Der Autor ist an der Schule für psychologi-tche Verteidigung der deutschen Bundeswehr tätig.

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