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Ein Rest bleibt Widerspruch

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In Kürze erscheint das Buch von Emil Franzel „Kronprinzenmythos und Mayerling-Legenden“ in erweiterter Auflage, der im Sommer eine englische Ausgabe folgt. Dies lenkt erneut die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Tragödie von Mayerling.

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In Kürze erscheint das Buch von Emil Franzel „Kronprinzenmythos und Mayerling-Legenden“ in erweiterter Auflage, der im Sommer eine englische Ausgabe folgt. Dies lenkt erneut die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Tragödie von Mayerling.

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Wenn Leben und Tod Kronprinz Rudolfs trotz allem, was darüber bereits geschrieben wurde, immer wieder zum Denken und Forschen anregen und das Ergebnis bei vielen Menschen Interesse findet, so liegt die Ursache wohl darin, daß sein für Österreich und die Welt bedeutsames Schicksal immer noch ungelöste Geheimnisse birgt. Die Widersprüchlichkeit der erhalten gebliebenen Quellen begünstigen Zweifel an den Ergebnissen der bisherigen Forschung und das Verschwinden so vieler natürlicher Quellen über Ablauf und Ursache des damaligen Geschehens verhindern die Beseitigung dieser Zweifel und die Erkenntnis der vollen einwandfreien Wahrheit. Trotz der beiden vor kurzem erschienenen Werke über das Drama von Mayerling, das eine vom Verfasser dieses Artikels, das andere von Fritz Judtmann, beide das Ergebnis vieljähriger Forschungsarbeit, ist das letzte Wort über Mayerling noch keineswegs gesprochen.

Gerade die häufigen Widersprüche in den Quellen zwingen den Forscher immer wieder zum Überdenken fraglicher Vorgänge. So empfand ich bei dem Bericht über die Durchsuchung des Schreibtisches des Kronprinzen am frühen Morgen des dem Todestag folgenden 31. Jänner 1889, vorgenommen durch Sektionschef von Szögyeny-Marich und Hofrat Kubasek stets ein Unbehagen, dies, wie bisher angenommen, als Ausführung des vom Kronprinzen erteilten Auftrages anzusehen, der in seinem in Mayerling gefundenen Abschiedsbrief seinem Freunde Szögyeny unter Beilegung des Schreibtischschlüssels erteilt wurde. Szögyeny wird darin gebeten, den Schreibtisch sogleich allein aufzumachen, alle Briefe von Gräfin Larisch und Mary Vetsera sogleich zu verbrennen und mit den anderen Schriften nach Gutdünken zu verfahren.

Wieso konnte Szögyeny zu dieser Stunde bereits Kenntnis von diesem Abschiedsbrief haben? Lagen doch-die Ergebnisse der „zur Erhebung des Tatbestandes und zum Forschen nach einer letztwilligen Anordnung-' am Vortag nach Mayerliing entsandten Kommission des Obersthofmarschallamtes erst am frühen Vormittag des 31. Jänner dem Kaiser vor. Erst nach Erscheinen meines Buches kam ich zur richtigen Erkenntnis, welche die Sache klärte. Diese „inoffizielle“ erste Durchsuchung des Schreibtisches erfolgte gar nicht auf Grund des Briefes an Szögyeny! Ihr Zweck war übrigens auch schon dem damaligen Hof-sekretär im Obersthofmarschallamt Freiherrn * von Slatin unklar gewesen, später sagte ihm Hofrat Kubsaek, es sei gesucht worden, „ob nicht etwa eine Schrift vorhanden sei, die sich auf die letzten großen Mißhelligkeiten in der Familie bezieht“.

Der Tatbestand war nun der, daß Szögyeny, wie die Kammerfrau der Kronprinzessin, Sophie von Planker-Klaps, berichtet, am 31. Jänner um 5 Uhr morgens auf Allerhöchsten Auftrag in der Kammer der Kronprinzessin um die Duplikatschlüssel zu Rudolfs Schreibtisch ersuchte und zusammen mit Hofrat Kubasek den Schreibtisch durchsuchte. Ob dies auf spontanen Befehl des Kaisers oder in teilweiser Befolgung des diesem nach Bekanntwerden der Katastrophe durch den Obersthofmarschall übermittelten Testaments erfolgte, wissen wir nicht.

Bei dieser Vordurchsuchung des Schreibtisches wurden offenbar gerade jene Briefe, deren Vernichtung von Rudolf erbeten wurde, sichergestellt und gelangten so in die Hände des Kaisers. Der Wunsch Rudolfs, Szögyeny möge sogleich den Schreibtisch zwecks Vernichtung der Briefe und vielleicht auch sonstigen Materials durchsuchen, ging somit nicht in seinem Sinne in Erfüllung, sondern die Durchsuchung bewirkte gerade das Gegenteil.

Später am Tage fand dann die offizielle Eröffnung des Schreibtisches mit dem im Abschiedsbrief Szögyeny übersandten Schlüssel durch die Testamentsaufsuchungskommission statt, bei welcher der vorgefundene Inhalt des Schreibtisches, in vier Pakete verpackt, der Kabinettskanzlei übergeben wurde.

In letzter Zeit ist nun ein Ereignis eingetreten, das das regste Interesse all jener finden muß, die sich bestreben, das Drama von Mayerling und seine Ursachen einer einwandfreien historischen Klärung zuzuführen. Es ist die Neuauflage des längst vergriffen gewesenen Standardwerkes von Oskar Freiherrn von Mitis über das Leben des Kronprinzen Rudolf, herausgegeben und eingeleitet von Professor Adam Wandruszka. Der Text des 1928 erschienenen Buches, das zum erstenmal ein umfassendes, lebensvolles Bild der faszinierenden Gestalt des Kronprinzen und seines Schicksals gab, ist unverändert geblieben und wurde durch seine Briefe an Professor Billroth bereichert. Wandruszka führt in seiner Einleitung die seit Mitis erschienene seriöse Literatur über Leben und Tod des Kronprinzen an und bespricht die einzelnen Publikationen. Dann aber wendet er sich selbst der Kardinalfrage zu, aus welcher Ursache Rudolf den Entschluß zum Selbstmord faßte, und entwickelt hiezu seine von den bisherigen Motivationen abweichende These.

Mit vollem Recht vertritt er dabei die Ansicht, daß die ernste Forschung im Bestreben, von der Kolportage der kitschig-sentimentalen einfachen „Liebestragödie“ — wie wir sie in vielen unernsten Mayerling-Erzählungen finden — wegzukommen, der entgegengesetzten Kolportage der „Verschwörungstheorie“ zum Opfer gefallen sei. Für letztere von der ernsten Forschung zwar nicht „fast einhellig“, aber doch in hohem Maße angenommene Theorie, nämlich, daß Rudolf in eine ungarische Verschwörung mit dem Ziel eines Staatsstreiches verwickelt gewesen sei, gibt es nämlich überhaupt keine Beweise. Ich selbst habe in meinem Buch darauf hingewiesen, daß aus dem Wortlaut des Schrei-Fritz Judtmann I bens, in dem Erzherzog Johann (Johann Orth) den Kaiser um Zustimmung zur Niederlegung aller seiner Würden bat, unzweifelhaft hervorgeht, daß zumindest eine Verschwörung Rudolfs mit Erzherzog Johann, welche vielfach behauptet oder vermutet wurde, dem Kaiser oder der Regierung unmöglich bekannt gewesen sein kann.

Der in allen uns bekannt gewordenen Abschiedsbriefen Rudolfs wiederkehrende Hinweis, sein Tod sei die einzige Art, als Gentleman diese Welt zu verlassen, deutet Wandruszka schon dieser Ausdrucksform nach als das Gefühl einer „Verpflichtung der persönlichen Ritterlichkeit“ und hält die zahlreichen Gerüchte und Hinweise auf eine eingebildete oder tatsächliche Schwangerschaft der Baronesse Vetsera einer größeren Beachtung wert, als sie bisher gefunden hat. Diese Behauptungen finden sich in verschiedenen Zeitungsnachrichten (unter anderen im „Neuen Wiener Tagblatt“ vom 22. Juni 1923: Mitteilung des Botschafters Paleologue auf Grund einer Information durch die Kaiserin Eugenie, die sich auf Kaiserin Elisabeth berief) wie auch in einem Konfidentenbericht vom Februar 1889 im Akt des Polizeipräsidenten Baron Kraus. Vor allem aber gab die dem Verfasser als absolut glaubwürdige, zuverlässige und logisch denkende Dame bekannte Gräfin Zoe Wassilko seinerzeit im Haus-, Hof- und Staatsarchiv zu Protokoll, daß in den verschollenen, vom Kaiser dem Grafen Taaffe zur Aufbewahrung übergebe-nen Akten, in die ihr als jungem Mädchen im Oktober 1919 von ihrem Vetter Graf Heinrich Taaffe, dem Sohn des ehemaligen Ministerpräsidenten, in Schloß Ellischan, wo sie zu Gast war, Einsicht gewährt wurde, ausdrücklich gestanden ist, daß Mary Vetsera schwanger gewesen sei. Da gerade dieser Umstand für die Leserin sehr eindrucksvoll war, ist es als sicher anzunehmen und wurde mir von ihr auch jetzt wieder bestätigt, daß diese Angabe in den verschollenen Taaffe-Akten tatsächlich enthalten ist.

Daß Mary Vetsera wirklich ein Kind erwartete, ist möglich, aber freilich keineswegs erwiesen, da sie ja niemals obduziert wurde; natürlich fand aber am Todestag, als Professor Widerhofer noch vor Ankunft der Kommission nach Mayerling kam, die Totenschau statt, bei welch summarischer Untersuchung ein Irrtum des Arztes ohne weiters möglich erscheint. Auch die Mutter Marys verneint in der zu ihrer Verteidigung herausgegebenen Denkschrift, in der man nirgends eine Unwahrheit findet, eine Schwangerschaft ihrer Tochter. „Auch die etwaige Möglichkeit, als ob eintretende Folgen des Verhältnisses zu dem Kronprinzen die Todesgedanken in ihr erweckt haben könnten, ist völlig ausgeschlossen, es sprechen die bestimmtesten Umstände dagegen“, heißt es in der Denkschrift.

Es ist aber durchaus möglich, daß Mary, nachdem ihre Liebesbeziehung zu Rudolf 17 Tage vor der Katastrophe, am 13. #änner, zum Verhältnis geworden war und sie ganz unter diesem Eindruck stehen mußte, subjektiv zu der dauernden oder auch nur vorübergehenden Überzeugung kam, nunmehr ein Kind von ihm zu erwarten und ihm dies mitteilte. Wandruszka nimmt nun als wahrscheinlich an, daß zwar der Kronprinz, der ja schon wiederholt an Selbstmord dachte, dem an sich lebensfrohen Mädchen den Gedanken eines gemeinsamen Todes im Laufe ihrer Beziehungen nahebrachte, daß aber dann, nachdem sie ein Kind zu erwarten glaubte, Mary es war, die von ihm forderte, seine Reden vom Selbstmord gemeinsam mit ihr in die Tat umzusetzen, wofür auch die aufgefundene Aschenschale spreche, auf der von Marys Hand die Worte zu lesen sind: „Lieber Revolver, nicht Gift. Revolver ist sicherer.“ Gleichzeitig aber glaubt Wandruszka, daß in Rudolf ein schweres Schuldgefühl gegenüber dem blutjungen Mädchen, das sich ihm so bedingungslos anvertraut hatte, entstand, welches sich in den in seinen Abschiedsbriefen enthaltenen Worten „wie ein Gentleman diese Welt zu verlassen“ zeigte und das auslösende Moment zur Tat gebildet haben könnte.

Daß Kronprinz Rudolf die in manchen feudalen Kreisen herrschende Auffassung über Sexualmoral nicht bedenkenlos teilte, wonach ein sozial tiefer stehendes Mädchen eine Art Freiwild darstelle, das man beliebig jagen dürfe, ohne Verpflichtung, sich um das „erlegte“ Wild hernach mehr als unumgänglich nötig zu kümmern — und das ist ein wirklich gewichtiges Indiz für die These Wandruszkas —, geht aus einem Brief des Kronprinzen an den Herausgeber des „Neues Wiener Tagblatts'“, Moriz Szeps, vom 28. Juni 1882 hervor. In diesem Briefe schreibt er:

„Die Altensteiner Tragödie wurde in Ihrem Blatte viel und gründlich besprochen. Es war gut, das Publikum zu warnen und dasselbe auf die Grundsätze des Hochadels aufmerksam zu machen, bei dem das krumme Pferd und das bis zum Tode gebrochene Mädchen aus den unteren Schichten in eine Kategorie gehören, nämlich zum Sport...“ Und er äußert sich auch im weiteren Text des Briefes sehr abfällig über den Hauptakteur dieser Tragödie.

Diese bestand darin, daß ein noch nicht großjähriger Graf C. ein Verhältnis mit einer jungen Schauspielerin hatte, dem ein Kind entsproß. Während der junge Mann die Vaterschaft schriftlich anerkannte und für die Sustentation des Kindes durch eine ausreichende Lebensrente zu Lasten des Pflichtteiles nach seiner verstorbenen Mutter sorgen wollte, lehnte sein Vater diese Sustentation als viel zu hoch ab, da sie beinahe den vierten Teil des Pflichtteils betragen hätte, und erklärte sich nur zu einem „billigen und gerechten Abkommen“ bereit. Die Mutter des Kindes erschoß sich schließlich zusammen mit einer Freundin im Park des gräflichen Schlosses.

Wenn auch das Urteil des Kronprinzen über die Grundsätze des Hochadels wohl zu verallgemeinernd erscheint — der junge Mann zumindest versuchte ja wirklich, dem immer noch geliebten Mädchen 7U helfen —, geht die Ansicht Rudolfs über die Moral in einem solchen Falle klar hervor.

Es ist ein unbestreitbares Verdienst Wandruszkas, daß er die historische Forschung hinsichtlich der Rolle, die Mary Vetsera beim Drama von Mayerling spielte, wieder ins rechte Geleise brachte. Freilich war die Notwendigkeit, die Beziehung zu ihr zu beenden, sich von ihr zu trennen, oder auch das Schuldgefühl ihr gegenüber nicht der alleinige Grund, daß sich Rudolf entschloß, aus dem Leben zu scheiden. Daß er diesen Entschluß faßte, kann auch für denjenigen, welcher über den weiteren Ablauf desDramas noch gewisse Zweifel hegt, nicht zweifelhaft erscheinen. Wie ich in meinem Buche darlegte, waren es viele Widerwärtigkeiten, die es ihm unwert erscheinen ließen, weiterzuleben, vor allem auch sein Gegensatz zur Politik des kaiserlichen Vaters und die Aussichtslosigkeit, all das, was er plante, zu verwirklichen. Ich nannte es, „weil er ahnte und fühlte, daß sich der Sinn seines Lebens nicht erfüllte, weil alle seine Hoffnungen geschwunden waren, weil er die Frau, die er liebte, verlassen sollte, weil er keine Möglichkeit sah, seine Ideen und Pläne zu verwirklichen, weil er glaubte, es seiner Ehre schuldig zu sein, weil er des Kämpfens müde war“.

Ob nun Wandruszkas These von der Rudolf von Mary mitgeteilten wirklichen oder vermeintlichen Schwangerschaft richtig, was durchaus denkbar ist, oder nicht ist, Schuldgefühle ihr gegenüber hatte er sicher. An seiner echten Liebe zu Mary kann nicht gezweifelt werden. Das geht aus dem Abschiedsbrief an seine Mutter, Kaiserin Elisabeth, hervor, in dem er Mary als einen reinen, sühnenden Engel bezeichnet, und ebenso wie in dem Brief an den Kammerdiener Loschek im Widerspruch zu aller Hofetikette bittet, mit Mary zusammen in Heiligenkreuz begraben zu werden, ebenso aus den Memoiren der Schwester der Kronprinzessin, Prinzessin Louise von Belgien, der er am Vortage der Fahrt nach Mayerling sagte, er komme nicht los von Mary, vor allem aber auch aus der Art der Schmuckstücke, die er ihr schenkte. Sie hatten wenig materiellen Wert, aber waren Zeichen inniger Liebe, ein eiserner Ehering mit den eingravierten Buchstaben I. L. V. B. I. D. T. (In Liebe vereint bis in den Tod), ein Medaillon mit einem Blutstropfen auf einem Stückchen Leinwand und ähnliches. Und hatten beide nicht vereinbart, wie wir aus einem Brief Marys an ihre Freundin wissen, zusammen zu sterben, wenn, ihre Beziehung bekannt würde?

Daß Rudolf sich von der Geliebten auf immer trennen sollte und daß er, mit ihr draußen in Mayerling, erkannte, daß sie die Trennung nicht überleben würde, gehört ohne Zweifel mit zu den wichtigsten Motiven für den Entschluß des Kronprinzen, mit ihr aus dem Leben zu scheiden. Ob er sich in einer Ungarn betreffenden politischen Frage etwa zu weit exponierte, wissen wir nicht, daß er aber an einer regelrechten Verschwörung beteiligt war, erscheint völlig unwahrscheinlich, und auch Freiherr von Slatin, Mitglied der Tatbestandskommission in Mayerling und einer der Eingeweihtesten von damals, hält in seinen nachgelassenen Papieren diese Version für vollkommen unrichtig.

Wandruszka hat sich aufrichtigen Dank dafür verdient, daß er der Forschung über das für die österreichische Geschichte so bedeutsame Mayerling-Problem durch die Neuausgabe des vergriffenen Mitis-Buches neuen Impuls gegeben und durch seine mutige These versuchte, die Forschung wieder zu richtigen Wegen rückzuführen.

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