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Ein Roman zeigt Krise und Ausweg

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Stehen wir an einem Wendepunkt? Wo ist der Ausweg zu suchen? Der Bischof von Trier analysiert das neue Buch eines österreichischen Autors und zieht Folgerungen.

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Stehen wir an einem Wendepunkt? Wo ist der Ausweg zu suchen? Der Bischof von Trier analysiert das neue Buch eines österreichischen Autors und zieht Folgerungen.

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Der Roman „Wüstungen“ von Matthias Mander scheint sehr bedenkenswerte Perspektiven zur gegenwärtigen Weltsituation aufzuzeigen.

Der Erzählfaden des Romans ist schnell berichtet. Verkaufsdisponent Zwigott, bis jetzt tätig in der Großfirma Erz-Blech-Chemie, hat seine Stellung dort gekündigt und eine Tätigkeit übernommen als Handelsakademieprofessor in Gänserndorf im Marchfeld. Er ist sozusagen von der Praxis zur Theorie übergegangen. Zwigott ist aus seiner Tätigkeit ausgestiegen, weil er es unerträglich fand, in ein System von Sach-zwängen, weithin vorgegebenen Handlungsabläufen eingespannt zu sein, das sich sozusagen selbst überlebt hat. Das Marchfeld, östlich von Wien, steht als Bild für den Zustand unserer Welt.

Ich möchte nun auf einige Problemgruppen des Romans hinweisen.

Das angehäufte Wissen ist von niemandem mehr zu überschauen. Jeder treibt die Entwicklung an seiner Stelle linear weiter und ist dabei in Gefahr, den Nutzen seiner Forschungen und Entwicklungen für das Gemeinwohl der Menschheit aus dem Auge zu verlieren. Wenn man aber das Gemeinwohl aus dem Blick verliert, verliert man auch den Menschen aus dem Blick. Zwigott stellt sich einmal die Frage:

„Was heißt eigentlich Staats-raison? Offenbar das bis heute unbefragt zur Kenntnis genommene Vorrecht, einer vom Augenschein abweichenden, außerpersönlichen Maxime zu folgen, die nicht Lebensglückj sondern Institutionsgewalt bezweckt.... Diese Institutionen sind der verfestigte böse Abhub unserer Charaktere, ursprünglich als Selbstschutz des Menschen vor eigenen Verfehlungen erdacht, später zu ihn überherrschenden, mit perverser Sondervernunft ausgestatteten Formalismen ausgebaut, die hypnotisiert die Abgründe umkreisen und von dort ihre lähmenden Normen beziehen. Der Trick dieser Unterwelt ist die Unterhaltung mörderischer homuneuli mit zu Stundenlöhnen eingekauften Teükapazitäten gutartiger Vollmenschen. Stellenbeschreibung, Arbeitsteilung, Haftungsbeschränkung, Spezialistentum, Beamtentum, Soldatentum - die Hölle etabliert sich durch Teilzeitengagements braver Bürger an einer bis zur Unkenntlichkeit zerstückelten Organisation. Für die großflächige Umsetzung der guten Seiten aller Charaktere — Klugheit, Geduld, Erfindungsreichtum, Selbstlosigkeit - findet sich keine schlagkräftige Institution.“

Ich bin der Meinung, daß man über diese Fragen in der Tat nachdenken muß.

Zwigott nennt die Menschen, die eine Uberschau haben, „Synoptiker“; er setzt sie den lediglich linear denken könnenden Inkre-mentalisten entgegen. Während die letzteren durch die zunehmend sichtbarer werdende Unzulänglichkeit des von ihnen getragenen politischen Systems immer nur verbohrter an den überkommenen Strukturen festhalten, mühen sich die Synoptiker um Ubersicht. Zwigott notiert: „Aber *ein Synoptiker erscheint in der Geschichte stets als kurz aufleuchtendes Wunder zur Erreichung eines einzigen konkreten Durchbruchs. Dieser Einsatz ist nicht wiederholbar.“

Im weiteren sinniert Zwigott: „Zwei Grundfehler zeigen sich an diesem Anfang vom Ende einer fast tausendjährigen verdienstvollen Ordnungsentfaltung unter dem Namen Österreich.

1. Abwesenheit einer offenen, phantasiereichen, theoretisch und sprachlich der Problemstellung angemessenen Haltung der Machthaber, oder wenigstens jener heilsamen Ungewißheit, die für Gnade durchlässig ist, blinde Gewalt unterbände.

2. Heillose gegenseitige Schuldzuweisungen aller Parteien, wodurch eine nicht auflösbare Verkrampfung in den Vorgang gebracht wurde.“

Ich komme zu einem weiteren Aspekt. Die arbeitsteilige Wirtschaft ist notwendig; dazu gibt es keine Alternative. Aber nach dem rechten Maß und nach Ausgleichsgewichten muß man schon fragen. Unser Roman weist darauf hin, daß man in den Umbruchsjahren um 1848 die Bauernbefreiung mit der ernsthaften Befürchtung zu verhindern suchte, „wonach ganz Wien verhungern müsse, weil kein Bauer mehr die Robot leiste! Dies beweist, daß stets Mißtrauen gegenüber bestehenden Denkmustern geboten ist. Was human notwendig war, erwies sich auch als ökonomisch zweckmäßig.“

Ich gestehe offen, daß mich der zuletzt zitierte Satz stutzig gemacht hat. Kann man einer solchen Hypothese zustimmen? Ich glaube schon.

Um jedes Mißverständnis auszuschließen: Ich halte das menschliche Gewinnstreben für keineswegs unmoralisch. Die Wirtschaft ist darauf angewiesen, Gewinne zu machen, da nur so Kapital angesammelt werden kann, das dann neue Investitionen zu finanzieren imstande ist. Gleichwohl bedarf es hier langfristigen und strategischen Denkens und nicht nur kurzfristiger Taktik.

Sollte es nicht möglich sein, aus sogenannten „Sachzwängen“ auszubrechen, da doch klar zu sehen ist, daß sie auf die Dauer für uns alle und möglicherweise für die Welt tödlich sind? Zwigott notiert: „Voraussetzungen wären gegeben: Bildungs- und Informationsangebot, weltumspannendes Fernsehen, genug Muße zur Erkenntnis.“ Wo findet sich aber der große „Synoptiker“, der diese Zusammenhänge den Menschen klarmachen und sie zu einem Zusammenwirken zum Nutzen aller motivieren kann?

Ich verstehe nichts von Weltwirtschaft und von den komplizierten Verflechtungen und Zusammenhängen, die sie in Gang halten. Uber eines aber bin ich mir sicher: Wenn es uns nicht gelingt, durch ein Miteinander aller Bereiche einen neuen Anfang zu setzen und neue Wege zu suchen, gehen wir schlimmen Zeiten entgegen.

Gekürzter Text eines Vortrages vor dem Saarländischen Industriellenverband _in Saarbrücken.

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