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Ein Sommergewitter

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Der gebürtige Salzburger Erich Wolfgang Skwara („Pest in Siena”, „Schwarze Segelschiffe”) lebt seit vielen Jahren in Baltimore/ USA.

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Der gebürtige Salzburger Erich Wolfgang Skwara („Pest in Siena”, „Schwarze Segelschiffe”) lebt seit vielen Jahren in Baltimore/ USA.

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Er steht im Schwimmbecken und sieht, wie sich aus allen Richtungen die Gewitter zusammenziehen. Das Wasser reicht ihm bis an den Hals. Unheimlich und grau liegt das Becken vor ihm, ein Abglanz des Gewitterhimmels lastet darüber. Noch ist nirgends Donher zu hören, aber an den Rändern des Horizonts zucken schon überall die Blitze. Sie verzweigen sich wie nackte Baumäste, wie irre Scherenschnitte oder wie plötzlich sichtbare Adern. Er starrt gebannt auf das Vorspiel zu diesem Gewitter, zu schwimmen, sich zu bewegen fällt ihm nicht ein.

Vor den Blitzen nicht fortzulaufen, beschert ihm ein seltsames Spielerglück. Er steht allein im Wasser, das jetzt die ersten Windstöße aufkratzen, und er genießt das Alleinsein. Natürlich sind die anderen Badegäste längst fortgegangen. Die schäbige Geselligkeit der Badeanstalt löst sich endlich in Einsamkeit auf. Seine siegreiche Einsamkeit. Aus den zerrissenen Westostnordsüdgewittern wird jetzt ein einziges Unwetter im Zenit. Der Donner zischt, rollt und schlägt, das Wasser schickt Wellen über den halb geöffneten Mund.

So steht er, nicht eigentlich lebensmüde, bis ihm der Mut zu lächerlich wird und der Regen zu peitschend. Er steigt aus dem Wasser und geht, von Blitzen durchleuchtet, die dampfende Straße hinunter zu seiner Wohnung. Der Mietkomplex scheint jetzt menschenleer, das Gewitter verzerrt die Tatsachen. Fröstelnd tritt er in seine klimatisierten Räume ein, reißt sich die Badehose vom Körper und reibt sich mit großen Handtüchern trocken. Es liegt alles parat in seiner Wohnung. Aber anstatt sich danach wohl und geborgen zu fühlen, ist ihm elend zumute. Zum ersten Mal seit dem Anfang des Sommers, in dessen Mitte er heute steht, verläßt ihn die Kraft.

Er ist gewiß kein sportlicher Mensch. Nur zu schnell wird er sterbensmüde. Die tägliche Abendstunde im Schwimmbad — eine der Annehmlichkeiten seiner teuren Wohnung — bedeutet ihm nach den Arbeitsstunden eine ersehnte Wollust. Schwimmend erfüllt er sich so den Wunsch nach Umhüllung, den Hunger, gleitend umgeben zu sein von etwas Großem, das er nach eigener Willkür zerteilt. Tagsüber ist er ja klein, seine Karriere bewegt sich schneckenlangsam, und die Miete der vornehmen Wohnung verschlingt die Hälfte seines Einkommens. Aber er ist bestimmt kein Hochstapler, obwohl ein oberflächlicher Betrachter seines Lebens ihn als solchen bezeichnen könnte.

Wenn er das Büro verläßt, wo er eine Arbeit verrichtet, die seine Züge nicht deutlicher zeichnet, möchte er mit der ganzen Welt eine gigantische Umarmung vollziehen. Das ist nur zu natürlich, das Bedürfnis nach Ausgleich. So schwimmt er Sommerabend für Sommerabend, und am liebsten schwimmt er dort, wo das Wasser — unter dem Sprungbrett — fünf Meter tief ist. Er bildet sich ein, das Wasser wäre fünftausend Meter tief, diese Vorstellung findet er erhebend. Dann aber schwimmt er bis zur Grenzlinie zurück, wo er gerade noch auf den Zehenspitzen stehen kann. Von diesem Punkt aus blickt er in die Welt. Das Wasser hebt seinen Körper hoch, er kann nur tänzelnd seine Stellung bewahren, aber' sein Kopf wirft Anker aus. Im Wasser stehend in die Welt eindringen, sich von Gewittern und Todesarten umhüllen lassen: vielleicht war dies seine Form der Reue.

Vor sehr langer Zeit hatte er ein Verbrechen begangen. Natürlich war das Verbrechen nicht vorbereitet worden, war vielmehr über ihn hereingebrochen, denn er war ein anständiger Mensch. Nur haltlos war er, und etwas zu sinnlich, und damals ritt ihn der Teufel. Er hatte im Urlaub, in Apulien, er war kaum zwanzig geworden, ein Bettlermädchen im Wagen mitgenommen. Ihre Haut war so frisch, so erregend gewesen, daß er das Mädchen haben mußte.

Sie war vielleicht sechzehn Jahre alt, er hatte ihr Geld für ihren Körper geboten, aber sie, die Bettlerin, lehnte den Handel ab. Was wollte sie, ein fetzenumhülltes Niemand, von Würde reden? Er griff einfach zu, sie wehrte sich, er hatte zuvor eine Flasche Landwein getrunken, der Kampf neben dem Schotterweg, zwischen den verkrüppelten Olivenbäumen, belustigte den jungen Touristen.

Er würde es der Bettlerin zeigen, für ihn war der Vorgang ein Spiel, er war auch ein wenig betrunken, und im blinden, keuchenden Siegenwollen hatte er plötzlich Blut an seinen Händen gefühlt. Das Mädchen war ohne Widerstand, sie sank zur Erde, um ihren Hals zog sich eine häßliche Spur. Er wachte auf, bevor er sie besessen hatte.

Er verbarg den Körper unter Steinen und Asten und fuhr davon. Als er endlich die Autostrada erreicht hatte, ging es schnell. Nach einer durchfahrenen Nacht überquerte er im Morgengrauen die Schweizer Grenze. In Lugano mietete er ein Zimmer, um zu baden und sauber zu werden. Der Wagen war ja in Ordnung, der Kampf hatte im Freien stattgefunden, auf seiner Kleidung fand sich kein Blut.

Die Polizei würde bestimmt nicht allzusehr am Tod von Bettlern interessiert sein. Eine Akte, eine Zeitungsnotiz, vielleicht auch eine Verhaftung, ein zu Unrecht angeklagter Landstreicher, weiter nichts. Der Weg war steinig und trocken gewesen, der Wagen hatte bestimmt keine Spuren gelassen. Niemand hatte die beiden gesehen, es war Mittag gewesen und alles schlief. Er lächelte, als er im Schaumbad im Hotel Excelsior saß. Nachher trat er auf den Balkon und überblickte den See; es konnte ihm nichts geschehen.

Nein, er fühlte sich nicht als ein Mörder. Er verdammte den Stolz und die dumme Scham der Südländer. Als er tags darauf nach Zürich weitergefahren war, hatte er sich jenes Zwischenfalls kaum noch erinnert. Es fiel ihm nicht ein, daß er die Welt aus dem Gleichgewicht geworfen hätte.

Und jetzt waren zwanzig Jahre vergangen. Natürlich hat er niemals von der Sache etwas gehört. Apulien hat er seither gemieden. Er ist kein Mörder, es war der Landwein, die Hitze, die junge Haut gewesen, er ist ein ehrlicher Mensch, dem einmal im Leben das Temperament durchging. Nur staunt er, warum er gerade jetzt, mitten im wildesten Gewitter, an die Tote zurückdenken muß.

Nicht wegen jenes Malheurs hatte er Europa verlassen. Seine Firma hatte ihm zufällig die Position im neuen Kontinent angetragen, und er hatte aus Langeweile zugesagt. Wenn jener Unfall, es war kein Verbrechen, überhaupt etwas an ihm verändert hatte, dann nur, daß er seither ohne greifbare Menschen, eigentlich nur in seinen Träumen lebt.

Das Abschweifen von der wirklichen Welt hat bei ihm nichts mit Unzulänglichkeit im Leben zu tun, sondern wächst in ihm bedingungslos, wie ein Tumor. Der ahnungslos Erkrankte kümmert sich nicht darum.

. Ein Donnerschlag, so laut, daß der Nackte zusammenzuckt, läßt ihn merken, daß die Fenster des Schlafzimmers geöffnet stehen. Schon einige Schritte davor fühlt er die Regennässe auf dem Teppich. Er zieht die Scheiben zu und erkennt die Unsinnigkeit dieser verspäteten Maßnahme. Und im gleichen Augenblick schmerzt ihn der Tod des Bettlermädchens. Ich muß wohl verrückt sein, schilt er sich. Er denkt: das Kind würde über dreißig sein, über die Blüte hinaus. Eine Alte fast, mit Falten und Kindern; sie ist besser tot. Damit hustet er und entledigt sich des unangebrachten Bedauerns.

Er schaltet den Fernseher an, aber jeder Blitz überträgt sich vibrierend der Bildröhre. Er erinnert sich gehört zu haben, daß Fernsehen bei Gewitter gefährlich sein soll. Er geht in die Küche, und gießt sich einen mehrfachen Whisky in ein staubiges Glas. Die Küche quillt über von ungewaschenem Geschirr. Die Uberreste seines Lebens ekeln ihn an. Eine Frau müßte her, murmelt er beiläufig, dann geht er zurück ins

Wohnzimmer und bemüht sich, auf den Bildschirm zu starren.

Der Film besteht aus kristallklaren Büdern einer wolkenlosen Kulissenwelt. Die Handlung interessiert ihn nicht, er ist ohnehin kaum jemals imstande, einer Handlung zu folgen. Sein Schauen verknotet sich nur mit den Schritten der Kamera; wie Baum, Haus und Körper ihrer Dimension beraubt werden und dennoch wieder überzeugen können: da kommt er nicht mit. Er hat keinen Sinn für Zauberei und Zirkusspiele. Er sucht auch keine Spannung, weil ihn das Atemlose verstört. Blut, Schmerz, oder gar Hingabe und Tod: das sind seine Wege nicht.

Ein Rütteln durchfährt das Haus, ein Zischen und ein betäubender Donnerschlag. Das Fern-sehbüd erlischt zusammen mit den anderen elektrischen Lichtern. Es ist dunkel in der Wohnung, er blickt zum Balkon, auch im Nachbarhaus kein Licht. Ihm wird klar, daß ein Blitz in nächster Nähe einschlug. Und neue Blitze erhellen fetzenhaft den Raum. Er schaut an sich hinunter. Sein Körper strahlt im bleichen Uberschüttetsein. Die Hülle eines Gespenstes. Unter dem Sekundenlicht bissiger Blitze sucht er seine Kleidungsstücke zusammen und zieht sich endlich an. Erst jetzt wird ihm bewußt, daß er lange Zeit nackt gewesen ist.

Dann geht er von Fenster zu Fenster und zieht die Vorhänge zu. Ihr Stoff ist zu dünn, um das Gewitter aus dem Haus zu bannen. Die Luft riecht jetzt nach Ozon, er hat schon immer diesen Geruch gehaßt. Er bedeutet für ihn keine Frische. Ihm ist weder nach Daheimsein noch nach Whisky zumute. Er verläßt erneut seine Wohnung, sperrt nicht einmal hinter sich ab.

Er geht in den Regen hinaus, langsam zum Schwimmbad zurück. Die drohenden Blitze fürchtet er nicht. In voller Kleidung, auch die Schuhe streift er nicht ab, watet er in das Becken. Seine Kleidung wird schwer von Wasser, die Äußerlichkeiten ziehen das Eigentliche zum Grund.

Aber die kleinste Anstrengung reicht aus, um die Oberhand zu gewinnen. Er pfeift beim Schwimmen, er geht nicht unter, das Gewitter beruhigt sich noch immer nicht. Er genießt seine lästige Kleidung, sie klebt fast streichelnd an ihm, er beginnt zu lachen, er weiß natürlich, daß unter allen Gesetzen und Wertungen der Welt auch Mord verjährt, schneller noch als ein Sommergewitter.

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