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Ein spätes Wort
So einsam sind wir unter unseren Freunden geworden, so sehr uns allein überlassen, daß sie sich auch von uns verlassen fühlen müssen: alle Verantwortung gehört jetzt dem einzelnen; wie er seine Bahn zog, so bleibt sie eingegraben, nichts enthebt ihn seiner Taten. Die Zukunft verjüngt sich, ist schon klein geworden, es gibt kein Zu-
rück; das Versäumte ist verspielt, das Getane geschehen: lautlos ertaubt
Wie die Waage verzweifeln mußl Die Schale fällt; das Leere hat Gewicht. Was ist geschehen? Was bleibt?
Das Licht der Kerze ist treu. Das Licht der Erinnerung, ihm verwandt, rundet die Konturen, beglänzt das Schöne und hüllt das Dumpfe ein. Was immer auch geschehen ist, und sei es das Schlimmste gewesen, hat einen eigenen Schimmer: nicht, daß die Trauer und der Schmerz verlorenwären; jedes Heraufrufen weckt auch sie; aber ein Neues kommt dazu,
das Wissen, daß damals, der 6ie erlitt, noch ein anderer, in jedem Falle ein Jüngerer als heute gewesen ist Ein Glücklicherer, weil die Zeit noch nicht so viel von ihm genommen und 60 viel auf ihn gehäuft hatte? Damals, ja damals!
Wir wandern, wandern an strafenden Fichten vorüber, immer wieder unter ihren Blicken und unter den Leibern leiser Vögel. Der Weg ist mühsam; wir steigen über verworrene Stufen, manchmal ziehen wir den Arm einer Tanne zu uns herab, und dankbar atmen die Bäume weiter, grüßend und winkend. Fern in den Fluchten der Erde gebettet stehen schattenhaft Gebäude; auf der Höhe des Hügels ragt ein hohes Bauwerk über die Schwärze hinaus in die hellere Finsternis. Erfüllt von liebem Licht, dessen Wärme durch spärliche Ritzen quillt, scheint der Bau aus den Augenwinkeln zu lächeln; so groß er ist, so mild ist er, so trostvoll, behaglich. Dunkel umschließt die harte Schale einen sanften glücklichen Schein.
Wir wollen e intreten und, indem wir das heilige Tor schüchtern öffnen, einer wartenden Schar von Engeln gleich den Weg einschlagen in die Welt, die wir verlassen haben, die die unsere war.
Was für eine Täuschung war doch die Sicherheit unserer Kinderzeit. Wie ist aus dem Festen, Unverrückbaren, Festlichen, Glücklichen der Schwall des Alltags geworden, und die Erschütterlichkeit. Keiner hielt das gegebene Versprechen, keiner half, nichts half uns, wir mußten mit. Durch ein ganzes Menschenal- ter.Siehe! Stehen wir nichtauf einer Insel inmitten des bewegten Stromes der Zeit, von Trümmern umtanzt, von spülichtfarbenen Wellen umtost, auf Stücken und Resten die Menschen an uns vorbeihuschen sehend, während wir blieben, die wir waren.
Die erhabene Zwölf zahl der Apostel verbindet sich im Worte Dezember mit dem kühlen „decem“ aus Römerzeiten, zehn ist zwölf und zwölf ist zehn und alles ist eins, ist
Gott. Das aber bleibt: da wir dahinlebten, lebten wir zu ihm hin, und da wir den vollen Tropfen vom Becher sinken sahen, in tiefe, uns nicht mehr erreichbare Tiefe, fühlten wir sein Eingehen in das Element. Haben wir genug geliebt, daß uns genug vergeben werden kann? Sind wir uns nicht selbst ausgewichen, und wie wollen wir uns vor den Prüfungen verheimlichen, die das Kommende über uns verhängen wird? E inmal rundet es sich uns nicht mehr, und dann werden wir uns noch einmal befragen, aber die Antwort steht uns nicht mehr frei, sie wird uns gegeben, fürwahr nicht geschenkt. Das schöne, warme, bräutliche Licht! Kein Grund, sich vor ihm, dem Besseren, zu scheuen. Ist der Mensch in Bangnis erwachsen, so geschah es, ihn vor Würde befangen zu machen.
Unser Los wird unbeirrbar gezogen, aber so hoch, daß wir davor erbeben müssen, nicht in Angst, nicht in Schaudern, sondern unsäglich froh.
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