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Ein stürmischer Prozeß

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FURCHE: Das neugewählte Par- lament Armeniens hat sogleich die Unabhängigkeit der Sowjetre- publik ausgerufen. Wie beurteilen Sie die neue Situation?

KATHOLIKOS VASGEN: Ob- wohl das Ganze ein bißchen stür- misch vor sich ging, finde ich es erfreulich und sehr positiv, daß unser Land damit ein nationales Ansehen bekommen hat. Wir ha- ben eine nationale Regierung und unsere Trikolore konnte gehißt werden. Die Unabhängigkeit Ar- meniens wurde - wenn auch nur teilweise - erlangt.

Dieser Prozeß befindet sich, wie überhaupt in der gesamten So- wjetunion, erst im Anfangsstadium. Und es ist noch nicht ersichtlich, wie er enden wird. Ich glaube, daß politische, wirtschaftliche und exi- stenzielle Werte Armeniens es er- forderlich machen, daß die So- wjetunion nicht auseinanderbricht. Die beste Lösung wäre meiner Meinung nach die Schaffung einer aus konföderativen Sowjetrepubli- ken bestehenden Union - die Teil- republiken sollten völlig souverän agieren können.

FURCHE: Kann die Souveränität Armeniens die Lösung des Kara- bach-Problems erleichtern?

VASGEN: Das ist eben die Frage. Dessen bin ich nicht sicher.

FURCHE: Welchen Weg sehen Sie?

VASGEN: Mein Wunsch ist, daß das Volk Berg-Karabachs auf der Grundlage des Selbstbestimmungs- rechts der Völker seine Zukunft al- lein wählt. Welche Schritte uns dorthin führen werden, kann ich nicht vorhersagen.

FURCHE: Als sich vor kurzem wieder einmal die Lage in Berg- Karabach verschlechterte, traten mehrere Volksdeputierte der Arme- nier wie Viktor Hambarzumian, der weltberühmte Astronom und Prä- sident der Akademie der Wissen- schaften Armeniens, Zori Balaian aus Berg-Karabach sowie andere in Moskau in Hunger- streik. Konnten sie damit etwas erreichen?

VASGEN: Ich glaube schon. Die Welt reagier- te darauf. Das armeni- sche Volk - sowohl in der Sowjetunion als auch in der Diaspora - wurde noch einiger. Die Menschen, die an Frei- heit und Selbständigkeit der Völker glauben, wurden dadurch er- schüttert und reagierten dementsprechend. Auch in der Sowjetunion habe ich solche Reaktionen vernommen.

Ich weiß auch, nach- dem ich persönlich in diese Sache einbezogen wurde, daß die Zentral- regierung in Moskau sehr beunruhigt war und wünschte, daß der Hun- gerstreik beendet wer- de. Die Zentrale war auch bemüht, den Wünschen der Streikenden, die Lage in Berg-Ka- rabach und in Armenien zu bes- sern, entgegenzukommen. Wissen Sie, das Problem Berg-Karabach ist ziemlich kompliziert. Alle unse- re Wünsche wird man leider nicht berücksichtigen können. Es gibt auch die andere Seite, und die ist stärker als wir.

FURCHE: Stimmt es, daß Prä- sident Gorbatschow Sie gebeten hat, die Hungerstreikenden zum Ab- bruch ihrer Aktion zu bewegen?

VASGEN: Ja. Nachdem ich Tele- gramme an die Streikenden und an Gorbatschow gesandt hatte, rief mich Gorbatschow an und sprach über seine wohlwollende Absicht, alles Mögliche zu unternehmen, um im Rahmen bestimmter Grenzen das Berg-Karabach-Problem gerecht und friedlich zu lösen.

Dann bat er mich, daß ich mich persönlich bei den Hungerstrei- kenden einsetze, damit sie ihre Ak- tion beendeten. Nachdem ich meh- rere Telegramme an die Streiken- den gesandt hatte, beschloß ich, persönlich nach Moskau zu fahren, um sie durch mein Erscheinen un- ter moralischen Druck zu setzen. Als ich dort war, sagte ich gleich, wenn sie nicht aufhörten, würde ich mich zu ihnen setzen. Mit der Zeit konnte ich sie überzeugen, daß ihre Aktion den gewünschten Ef- fekt erzielt hätte, daß dieses Kapi- tel eigentlich abgeschlossen gehör- te.

FURCHE: Ist also Präsident Gorbatschow bereit, das Karabach- Problem zu lösen?

VASGEN: Ich hatte anschließend die Möglichkeit, Gorbatschow zu besuchen. Und da habe ich den Eindruck gewonnen, daß es Gor- batschow damit emst ist.

FURCHE: Die Souveränität Armeniens bewirkt auch eine Wie- dergeburt der Religion. Wie agiert die Kirche heute?

VASGEN: In der momentanen Situation blickt unser Volk zu uns herauf. Unsere Kirche ist eines der wichtigsten, wenn nicht das wich- tigste Fundament der Beständig- keit des armenischen Volkes. Unse- re Kirche ist 1.700 Jahre alt. Sie ging in allen wichtigen Ereignis- sen, sei es in kulturellen oder in politischen Fragen, immer mit dem Volk zusammen. Nicht selten spiel- te die Kirche in der Geschichte Armeniens die führende Rolle. Wir teilten das Schicksal unseres Vol- kes - sei es durch Ermutigung, sei es durchSpenden von Trost, Optimis- mus oder Hoffnung. Bekanntlich waren wir bis zum Zweiten Welt- krieg - wie alle anderen Kirchen in der Sowjetunion auch - unterdrückt gewesen. Bis auf die Mutterkirche Etschmiadzin waren die anderen Kirchen Armeniens alle zugesperrt. Die Geistlichkeit befand sich ent- weder in der Verbannung oder aber in Gefängnissen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich dieLage für uns, zwar eingeschränkt, aber doch zu bessern begonnen.

Viele unserer Klöster und Kir- chen waren in einem desolaten Zustand. In den letzten 30 Jahren haben wir die meisten wie- derhergestellt und neu eröffnet. Neue Kirchen durften wir aller- dings keine bauen. Heute sind auch diese Begrenzungen völlig aufge- hoben worden.

FURCHE: Wieviele Kirchen sind wiedereröffnet worden?

VASGEN: Im vergangenen Jahr haben wir beispielsweise zwölf Klöster und Kirchen in Armenien und Berg-Karabach eröffnet. In Berg-Karabach haben wir nun zwei Klöster und drei Kirchen, die von uns geführt werden. In den kom- menden Monaten werden es etwa 15 Kirchen beziehungsweise Klö- ster sein, die erst restauriert wer- den müssen. Uns fehlen aber Geist- liche, die diese Kirchen betreuen. Wir werden Jahre brauchen, bis eine neue Generation an Priestern her- angewachsen ist.

FURCHE: Was bedeutet die Wie- dergeburt des Volkes im Glauben?

VASGEN: Unsere Kirche wurde vom Volk immer respektiert. Die jüngsten Ereignisse haben sich für die Kirche sehr positiv ausgewirkt. Das Volk ist noch näher an uns herangerückt. Die Taufen, die jetzt stattfinden, ermöglichen uns eine ungefähre Schätzung der Zahl der Gläubigen. Vor 30 Jahren Wurden etwa 25 bis 30 Prozent der Kinder getauft, heute sind es 70 bis 80 Prozent.

Mit Katholikos VASGEN 1., dem Oberhaupt der Armenisch-Apostolischen Kirche, sprach ARTEM OHANDJANIAN.

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