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Ein Sturm isd gegen Europa

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Jedesmal, wenn ein Ausländer eine französische Persönlichkeit auf die Zurückhaltung anspricht, die zahlreiche Politiker Frankreichs der Entwicklung Westeuropas entgegenbringen, bekommt er eine Antwort, die mit der Geschichte der europäischen Integration zusammenhängt.

So muß man denn zur Kenntnis nehmen, daß es Frankreich gewesen war, das nach dem Krieg den Mut gefunden hatte, vollkommen neue Akzente in Westeuropa zu setzen; daß es Frankreich gewesen war, das ein Projekt vorgelegt hatte, welches in keiner Weise mit dem Friedensvertrag von Versailles nach dem Ersten Weltkrieg verglichen werden konnte: das Werk Robert Schumans gehört zum eisernen Bestandteil der Entwicklung eines freien Europa!

Allerdings wurde dieser Elan, diese Mystik eines geeinten Europa zerbrochen, als die Abgeordneten der IV. Republik die „Europäische Verteidigungsgemeinschaft“ (EVG) torpedierten. Zeitgeschichtler meinen, daß damals die Weichen neu gestellt worden seien, und die Schaffung einer Föderation westeuropäischer Staaten in weite Ferne gerückt sei.

Dieselben politischen Kräfte Frankreichs, die schon die EVG ablehnten, haben sich nun wiederge-

troffen, um die Wahl eines europäischen Parlaments zu hintertreiben. In erster Linie sind es Politiker aus der gaullistischen Sammelbewegung RPR, die eine schwarze Zukunft Frankreichs an die Wand malen, falls das Europäische Parlament supranationale Vorrechte für sich in Anspruch nehmen sollte.

Noch gefährlicher erscheint diesen Politikern die Verwirklichung eines Planes, der hinter den Kulissen europäischer Diplomatie zirkuliert: Danach würde diese Volksversammlung-die aus den Wahlen am 10. Juni hervorgeht - als Konstituante auftreten und den neun Staaten eine Verfassung aufzwingen. Der erste Ministerpräsident der V. Republik, Michel Debre, dessen Talent als Demagoge unbestritten ist, steigert seine Angriffe gegen die europäische Integration jedenfalls von Woche zu Woche.

Beim letzten Schuß vor den Bug der europafreundlichen Regierungspolitik verlangte Debre allen Ernstes, daß die römischen Verträge - also die juristische Grundlage der EWG - mit den Partnern neu ausgehandelt werden sollten, um jede Spur übernationalen Geistes zu eleminieren. Debre gründete außerdem im ganzen Land eine Reihe von Komitees, die den

Kampf gegen ein übernationales Parlament aufnehmen sollen.

Aus einer Reihe von Meinungsumfragen der letzten Monate geht dennoch eindeutig hervor, daß 60 bis 65 Prozent der Wähler für ein konföderiertes Europa sind und den Sirenentönen der Ultranationalisten wenig Glauben schenken. Aber einiges bleibt doch im Unterbewußtsein hängen, und Staatspräsident Giscard d'Estaing wie die Regierung betrachten mit Unruhe die Methoden dieser Ultras, die nationalistische Gefühle in einem Ausmaß anheizen wollen, wie sie Frankreich seit Ende des Krieges nicht mehr gekannt hat.

Unter anderem werden aus dem Abstellraum der Geschichte auch antideutsche Elemente hervorgeholt: der Bundesrepublik wird nachgesagt, sie würde gemeinsam mit kleineren Staaten eine Hegemoniestellung einnehmen, die unter der Patro-nanz der USA stehe.

Unnötig zu sagen, daß Giscard d'Estaing und die Regierung Barre diese Auffassungen nicht teilen und den eingeschlagenen europafreundlichen Kurs zäh weiterverfolgen. Dabei bekommt die Regierung auch Unterstützung aus dem Lager gemäßigter Gaullisten, etwa von Oliver Gui-chard, der durch Jahrzehnte hindurch einer der engsten politischen Berater General de Gaulles war. In einem aufsehenerregenden Artikel in „Le Monde“ greift dieser Baron des Gaullismus die Thesen seiner Parteigenossen frontal an.

Auch- der jetzige Justizminister Alain Peyrefitte, ehemaliger Generalsekretär der gaullistischen UDR, steht treu zur Politik der Regierung und wurde prompt von seinem Ortsverband auf sechs Monate aus der Partei ausgeschlossen. Höchst undurchsichtig ist die Rolle, die der Bürgermeister von Paris und Präsident des RPR, Jacques Chirac, spielt

Chirac hatte Ende des vergangenen Jahres einen schweren Autounfall und befindet sich seither in Kliniken. Das hinderte ihn freilich nicht, im November/Dezember zwei Dokumente zu präsentieren, die einander widersprechen. In dem einen nimmt Chirac die Politik der Regierung auf und bejaht die Notwendigkeit europäischer Wahlen. Im anderen verurteilt er die Europa-Politik Giscard d'Estaings schärfstens und zeigt sich mit dem Kreuzzug Debres einverstanden.

Was aber geschieht, wenn die Gaulüsten im Parlament einen Mißtrauensantrag gegen die Regierung Barre der Volksvertretung vorlegen? Wenn man die Arithmetik des französischen Parlaments studiert, würde dieser Antrag eine kleine, aber doch immerhin eine Mehrheit finden. Bei einem Gelingen dieses Planes wäre mit der Auflösung des Parlaments und mit Neuwahlen zu rechnen. Es wäre dann unmöglich, daß Frankreich dann am 10. Juni an den europäischen Wahlen teilnehmen könnte.

Es ist klar, daß die Kommunisten eine schweigende Zusammenarbeit mit den Gaullisten als etwas durchaus Positives betrachten und ebenfalls mit der Fraktion Chiracs gegen die Regierung stimmen würden. Auch der linke Flügel der Sozialistischen Partei, die im Führungskreis dennoch einige überzeugte Europäer wie Mauroy und Rocard hat, ist geneigt, sich dieser Fronde anzuschließen.

Kein politischer Beobachter hätte geglaubt, daß sich ein solcher Sturm erhebt, der die Innenpolitik der V. Republik gegenwärtig mehr aufrührt als soziale Belange wie Arbeitslosigkeit und Preissteigerungen. All der Streit um die Europa-Wahlen läßt darauf schließen, daß die Gegner Giscards und Barres die Wahl vom 10. Juni umfunktionieren und eine Volksabstimmung für oder gegen die Regierung präsentieren wollen.

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