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Ein Text, der die Ökumene bewegt

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Stagniert die Ökumene? Was meint Günther Gass-mann, Direktor der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung beim Ökumenischen Rat der Kirchen (ORK) in Genf?

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Stagniert die Ökumene? Was meint Günther Gass-mann, Direktor der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung beim Ökumenischen Rat der Kirchen (ORK) in Genf?

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FURCHE: Herr Doktor Gassmann, im Jänner 1982 hat die Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des ökumenischen Rates der Kirchen in Lima die Konvergenzerklärung über „Taufe, Eucharistie und Amt“ verabschiedet. Woher kommt es, daß diese Texte in den vergangenen sechs Jahren eine so breite Beachtung gefunden haben und noch immer diskutiert werden?

GUNTHER GASSMANN: Ich kann es mir nur so erklären, daß in Gemeinden, Kirchen und ökumenischen Gruppen bereits ein Interesse vorhanden war. Es geht ja bei Taufe, Abendmahl und bei den Diensten und Ämtern in der Kirche um Grundthemen christlichen Glaubens und Lebens. Christen fragen oder werden zum Bzi-spiel von ihren Kindern gefragt, worin die Bedeutung des Taufritus liegt. Sie möchten wissen, welche Folgen die Gemeinschaft mit Christus im Abendmahl für den Alltag, für die Heilung von Trennungen in der menschlichen Gemeinschaft hat.

In diese Situation hinein kommt ein Text, der aus einer umfassenderen ökumenischen Perspektive Einsichten und Erfahrungen der verschiedenen christlichen Traditionen zu diesen Fragen zusammenbringt. Darum spüren viele Menschen, daß in diesem Text etwas steckt, was für sie selbst und für ihre Gemeinschaft mit Christen anderer Konfessionen wichtig und bereichernd sein könnte.

FURCHE: In welchen Formen hat sich dieses Interesse geäußert?

GASSMANN: Das Lima-Dokument ist bisher in über 35 Sprachen — bis hin zu Urdu und Tonga — übersetzt und weltweit in mehr als 350.000 Exemplaren verbreitet worden. Tausende von Gruppen in Gemeinden, theologischen Fakultäten, kirchlichen und ökumenischen Organisationen haben das Dokument diskutiert. Die mit dem Dokument verbundene — wenngleich „inoffizielle“ — Lima-Liturgie wird bei vielen Gelegenheiten gefeiert.

Der ökumenische Dialog — ein wechselseitiger Lern- und Erneuerungsprozeß — hat hier in den letzten Jahrzehnten Brücken über die garstigen Gräben überkommener Kontroversen geschlagen. Es hat eine Öffnung für Erfahrungen und Erkenntnisse anderer Konfessionen stattgefunden im gemeinsamen Horizont der Weltverantwortung der Christenheit.

FURCHE: Wie haben die Kirchen auf diesen .ßrückenschlag“ reagiert?

GASSMANN: Unterschiedlich, aber insgesamt sehr positiv. Bisher haben etwa 170 Kirchen aus aller Welt eine offizielle Stellungnahme ihrer höchsten Leitungsgremien — Synoden, Bischofskonferenzen — zum Lima-Dokument abgegeben. Auch das ist ein bislang einmaliger Vorgang in der Geschichte der ökumenischen Bewegung. Diese Stellungnahmen — im Umfang.von einer Seite bis zu 60 Seiten—enthalten eine so reichhaltige Dokumentation im Blick auf das ökumenische Denken und Hoffen der Kirchen, wie sie uns bislang nicht zur Verfügung stand. Viele dieser Reaktionen der Kirchen haben auch bewußt versucht, die Tendenzen und Ergebnisse der breiteren Diskussion in ihren Gemeinden' aufzunehmen.

Soweit ich sehe, hat auch keine Stellungnahme den Inhalt dieses Dokumentes grundsätzlich abgelehnt. Im Gegenteil, die Aussagen zum Beispiel zur Zusammengehörigkeit von Taufe, Glaube und Gemeinde, zu einem umfassenderen Verständnis der Eucharistie als Danksagung für Gottes Schöpfung und Heilstaten und als Gemeinschaft der Gläubigen, zur Verankerung aller Dienste und

Ämter in der Berufung des ganzen Gottesvolkes und vieles mehr finden weitgehende Zustimmung.

FURCHE: Und die Kritik?

GASSMANN: Im Rahmen dieser zustimmenden Reaktionen finden sich natürlich auch viele kritische Anmerkungen und Anfragen zu einzelnen Aussagen. Grundsätzlichere kritische Reaktionen — von einigen protestantischen Kirchen — sehen in den Lima-Texten zum Beispiel eine zu starke Betonung der Rolle der Kirche im Blick auf die Sakramente und eine unangemessene Konzentration auf das ordinati-onsgebundene Amt und eine nicht akzeptable Tendenz hin zu einem sakramentalen und hierarchischen Amtsverständnis. Orthodoxe Stellungnahmen und die Stellungnahme der römisch-katholischen Kirche wiederum wünschen eine deutlichere Entfaltung des sakramentalen Verständnisses des Amtes. Der Dialog muß weitergeführt werden.

FURCHE: Worin liegt die Bedeutung der Stellungnahme der römisch-katholischen Kirche? •

GASSMANN: Die römisch-katholische Kirche ist mit zwölf Theologen in der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des ORK offiziell vertreten. Fast überall haben sich Katholiken am Lima-Prozeß beteiligt. Mehrere Dutzend Bischofskonferenzen und römisch-katholische Fakultäten in. aller Welt haben zum Lima-Dokument Stellung genommen. So ist die offizielle römischkatholische Stellungnahme, erarbeitet vom Einheitssekretariat und der Glaubenskongregation in Rom, eine logische Konsequenz dieser breiten und engagierten Beteiligung am Lima-Prozeß.

Es ist von besonderer Bedeutung, daß hier diese Kirche erstmalig auf höchster Ebene zu einem ökumenischen Dokument Stellung genommen hat. Und dies in sehr positiver Weise, wenngleich am Schluß eines der gegenwärtigen ökumenischen Hauptprobleme unmißverständlich angesprochen wird: die Forderung nach einer sakramental verstandenen Ordination kirchlicher Amtsträger durch Bischöfe in der apostolischen Sukzession als Vorbedingung für eucharistische Gemeinschaft.

FURCHE: Sehen Sie praktische Auswirkungen der Diskussion über das Lima-Dokument?

GASSMANN: Viele sogar. Wenn Tausende von Menschen sich mit einem solchen ökumenischen Text beschäftigen, dann bleibt ihr Denken und Handeln davon nicht unberührt. Durch die Beschäftigung mit dem Lima-Dokument sind viele neue ökumenische Kontakte auf Ortsebene entstanden. Bei Revisionen der Gottesdienstordnungen beachtet man das Lima-Dokument. Vereinbarungen zur gegenseitigen Taufanerkennung beziehen sich auf dieses Dokument ebenso wie die Erklärungen einiger Kirchen, eucharistische Gastfreundschaft zu praktizieren. In der theologischen Ausbildung haben die Lima-Texte an vielen Stellen einen festen Platz eingenommen. Bilaterale Gespräche zwischen weltweiten christlichen Gemeinschaften beziehen sich auf dieses Dokument. Der Prozeß geht weiter — es ist erstaunlich, was ein Text, ein theologischer dazu, bewirken kann!

Wir bereiten zur Zeit eine Auswertung des Prozesses und der Stellungnahmen der Kirchen vor. Diese soll im August 1989 von unserer Kommission entgegengenommen und den Kirchen zugeleitet werden. Dann werden wir etwas deutlicher sehen können, in welcher Weise das Lima-Dokument die ökumenische Bewegung bewegt hat und welches die noch ungelösten Probleme sind, mit denen wir uns weiter beschäftigen müssen.

FURCHE: Sie scheinen nicht der Rede von einer .JStagnation der Ökumene“ zuzustimmen?

GASSMANN: Gewiß, die großen ökumenischen Aufbrüche gibt es heute nicht mehr, kann es nicht mehr geben. Aber der Lima-Prozeß und andere ökumenische Entwicklungen wie das weltweite Engagement im Prozeß für „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ — und zwischen beiden Prozessen besteht eine tiefe geistliche Verbindung — zeigen, daß die Rede von einer „Stagnation der Ökumene“ leichtfertig und für die Zukunft der Ökumene wenig hilfreich ist.

Das Gespräch führte Felizitas von Schönborn.

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