7224903-1993_42_18.jpg
Digital In Arbeit

Ein Tiger setzt zum Sprung an

19451960198020002020

In Vietnam, dem Schwerpunktland Österreichs für die Sammlungen 1993 zum Sonntag der Weltkirche, erwachen Wirtschaft und Kirche.

19451960198020002020

In Vietnam, dem Schwerpunktland Österreichs für die Sammlungen 1993 zum Sonntag der Weltkirche, erwachen Wirtschaft und Kirche.

Werbung
Werbung
Werbung

Sprudelnde Atmosphäre in Saigon, der Viermillionen-Staat im fruchtbaren Reisanbaugebiet des Südens, erfüllt vom chaotischen Gewühl zahlloser Mopeds und Fahrräder, pulsierend von neuem Geschäftsleben. Boutiquen, Juweliere, Läden voll moderner Haushalts- und HiFi-Geräte schießen aus dem Boden, an jeder Ecke bieten Straßenhändler ihre Waren an.

Ein neuer Tiger Asiens erwacht aus jahrelangem Schlaf, setzt an zum Sprung in die goldenen Verheißungen des Wirtschaftsaufschwungs. 1986 setzte die Kommunistische Partei Vietnams, die ihre Macht beharrlich verteidigt, unter dem Schlagwort „Doi moi" (Erneuerung) den Startschuß für wirtschaftliche Liberalisierung. 1992 gelang die Stabilisierung der Währung, des Dong, die Inflation konnte von 700 auf unter 20 Prozent gedrückt werden. Noch bremst das US-Embargo, Auslandsinvestitionen kommen vor allem aus Taiwan, Hongkong, Australien, Südkorea und Japan.

Der Glanz, der laut Parteisprache „sozialistisch orientierten Mehrsektorenwirtschaft" trügt. Für zahllose Vietnamesen ist selbst das offizielle Mindesteinkommen von 100.000 Dong (etwa 110 Schilling) pro Tag unerreichbar. Sprunghaft schnellt die Zahl der Armen in die Höhe. Bettelnde und nach Abfällen suchende Kinder bevölkern die Straßen der Städte. Unter dem wachsenden sozialen Druck kann es sich das Regime nicht länger leisten, alle Bemühungen kirchlicher Sozialarbeit, die offiziell nach wie vor verboten ist, zu behindern.

So radelt Schwester Beatrice von den Barmherzigen Schwestern täglich auf ihrem Fahrrad in die Armenviertel von Saigon, um den Kindern Lesen und Schreiben beizubringen. Auch die Schwestern der

einheimischen Kongregation Ar-mantes de la Croix führen einen Kindergarten und eine Schule samt täglicher Schüssel Reis für die Kinder der Ärmsten. Denn im staatlichen Rildungsbereich fehlen aufgrund der miserablen Entlohnung Tausende Lehrer.

Auch die Narben des Krieges sind noch nicht verheilt. Auf beiden Seiten der Straßen leuchten die Mahnmale der Vernichtung: unzählige gepflegte weiße Gräber. Weite Gebiete sind noch verseucht von den großflächigen „Entlaubungsaktionen" gegen die Verstecke der Nordvietnamesen. Heute noch werden mißgebildete Babys geboren.

Der Überwachung kirchlicher Aktivitäten dient seit 1983 das Komitee der Patriotischen Katholiken. Ohne dessen Zustimmung gibt es keine religiösen Veranstaltungen, keine Auslandsreisen, keine Aufnahmen ins Priesterseminar und keine Ernennungen von Pfarrern und Bischöfen. Doch die Gründung einer Nationalkirche nach chinesischem Vorbild hatte in Vietnam keine Chance. Von den rund 1.800 Priestern sind nur etwa 30 „Patriotische Katholiken".

Im Herbst 1992 schickten die Bischöfe Vietnams einen detaillierten Forderungskatalog an Premierminister Vo Van Kiet. Die wichtigsten Stichworte: ungehinderte pasto-rale Tätigkeit, Verbreitung religiöser Schriften, Ausbildung kirchlicher Mitarbeiter, Rückgabe, Reparatur und Rau von Kirchen, Pfarrhöfen, Klöstern und Priesterseminaren. Doch im heurigen Frühjahr präsentierte der Direktor des Staatlichen Büros für religiöse Angelegenheiten nur äußerst magere Zugeständnisse.

Dennoch registrieren die sechs Millionen Katholiken aufmerksam jede Verbesserung des Gesprächsklimas zwischen Regierung und Religionsgemeinschaften. So besuchte KP-Generalsekretär Do Muoi nach der Tran-Quoc-Pagode in der Hauptstadt Hanoi - rund 60 Prozent der 70 Millionen Einwohner sind Buddhisten - auch die älteste katholische Kirche Vietnams, die Kathedrale von Hanoi. Und als Erzbischof Nguyen Van Binh letzten August im Spital lag, überbrachte ihm Premierminister Vo Van Kiet persönlich Genesungswünsche ans Krankenbett.

Am beharrlichen Dialog zwischen Kirche und Regierung führt für Paul Nguyen Van Binh kein Weg vorbei. Der 83jährige Erzbischof von Ho-Chi-Minh-Stadt, wie Saigon seit 1976 offiziell heißt, hofft auf eine stetige Lockerung der Fesseln der katholischen Kirche. „Wir haben aber auch die Chance", gibt er angesichts der Hoffnung auf eine kirchliche „Restauration" zu bedenken, „die Kirche zu erneuern, um endlich eine Kirche der Armen zu werden."

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung