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Ein Tourist ist noch kein Pilger

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Ob der Mensch zu den Heiligen Stätten reisen solle oder der Himmel überall gleich nahe sei: Ein altes Thema, das hier auf eine unserer Zeit gemäße Weise behandelt wird.

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Ob der Mensch zu den Heiligen Stätten reisen solle oder der Himmel überall gleich nahe sei: Ein altes Thema, das hier auf eine unserer Zeit gemäße Weise behandelt wird.

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„Während im Orient die Beduinen beginnen, seßhaft zu werden, geht nun in der westlichen Welt alles auf Reisen.“ So beginnt ein Buch „Reisen und Wandern im Heiligen Land“. Gereist wird überallhin, und daher läßt sich nicht verhindern, daß von Neugierde, Abenteuerlust und Fernweh Getriebene auch im Land der Bibel aufkreuzen. Sie haben die klassischen Stätten der Hochkulturen — soweit sie für Touristen erschlossen sind—zumeist im Bildungssturm und in fotografischer Perspektive erobert.

Das Flohhüpfen von Hotel zu Sehenswürdigkeit und umgekehrt ist längst eingeübt. Aber die zeitraubende Entfernung vom Quartier zum ersten „Opfer“ des Tages bleibt ein ungelöstes Problem, das in der englisch überlieferten Frage gipfelt: .Warum ist eigentlich die Altstadt von Jerusalem soweit vom Hotel entfernt?'

Solche Art von Reisen (als Bil-dungs- oder Studienreisen deklariert) erträgt eine Programmspanne von kurzfristig aufblitzender Religiosität bis zum Erstarren vor Kunstwerken. Die doch großteils fehlenden monumentalen Sensationen im Heiligen Land werden leicht kompensiert mit den bewundernswerten Leistungen der Vorläufer der heutigen Israelis, und wer eine militärische Schlagseite hat, kommt nicht zu kurz.

Eine Reise ins Heilige Land läßt sich vielfältig sozialtouristisch begründen. Eine viel einschneidendere und tiefere Motivation als jede andere liefert das aus der alten Pilgertradition hervorgegangene Wallfahrtswesen. „Das' Bedürfnis, ins Heilige Land zu wallfahren und die Stätten der Bibel aufzusuchen, ist fast so alt wie die Christenheit“, liest man bei H. Donner, „Pilgerfahrt ins. Heilige Land“. Aber nicht jedes Programm hält, was es verspricht, denn zwischen einer Pilgerfahrt und sachbezogenem Pilgern können sich Welten auftun.

Beliebt ist ein Ausflug in die religiöse Kinderstube mit viel Sentimentalität und Pathos für das Spurenlesen. Als schweren Fehler bezeichnet Johannes Emminghaus „die häufige Praxis, jeden Tag bloß eine Messe zu feiern und dadurch ein frommes Alibi für den sonst sozialtouristischen Charakter des Tages und der Reise zu bekommen“. Aber wie könnten Fluggesellschaften Pilgerreisen aus gewöhnlichen Rundfahrten werden lassen, wenn sie nicht die tägliche Messe einbauten?

Nicht nur die rein zweckmäßige Aneinanderreihung der Orte schafft für einen eiligen Pilger Verwirrung — es beginnt schon bei den erheiternden Reiseprogrammen. Eines ist mir in die Hände gefallen. Man lese und staune: „Nazareth (Verkündigungsbasilika und orthodoxe Grabeskirche)“. Hier wurde Jerusalem mit Nazareth, Geburt mit Tod und Gabriel mit Grabes- verwechselt. Ebenso kann eine Pilgerreise leicht mit einer Sightseeing-Tour (mit täglicher religiöser Pflichtübung) und eine Begegnung im Heiligen Land mit dem Zusammentreffen vieler Autobusse verwechselt werden. In solchen Fällen ist die Warnung des heiligen Hieronymus nicht zu überhören: „Die Stadt (.= Jerusalem) ist voll von Menschen jeder Art, und es herrscht ein solches Getümmel von Leuten beiderlei Geschlechts, daß du hier alles das ertragen mußt, was du anderwärts wenigstens teilweise vermeiden konntest.“

An anderer Stelle relativiert Hieronymus den Nutzen einer Pilgerfahrt: „Die Gläubigen werden jeder für sich nicht nach der Verschiedenheit ihres Wohnortes, sondern nach dem Verdienste des Glaubens gewogen; und die wahrhaftigen Anbeter beten den Vater weder zu Jerusalem noch auf dem Berge Garizim an. Denn Gott ist Geist, und die ihn anbeten, müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten ... Sowohl von Jerusalem wie von Britannien aus steht der Himmel gleichermaßen offen; denn das Reich Gottes ist inwendig in euch.“

Der große Bibelübersetzer wetterte dagegen - und war selber dort. Luther schimpfte in einer seiner Wochenpredigten über die „Abgötterey“ am Grab des Herrn, wäre aber selber gerne dort gewesen, allerdings auf andere Weise.

Im übrigen läßt sich die Vielfalt des religiösen Lebens nicht reduzieren auf den Grundsatz, daß das Heil nicht ortsgebunden sei und man im Geist und in der Wahrheit anbete, nicht auf dem Garizim oder in Jerusalem.

Wird der „fleischliche“ Mensch zeit- und raumlos, wenn er nach dem geistlich-geistigen Heil verlangt? Ist nicht die dinglich-sachbezogene, materielle Dimension religiösen Lebens ein Teil des biblisch ganzheitlichen Menschen? Pathetisch hieße das: die Pilger tragen ihre Herzen an die heiligen Stätten. Das ist der leibliche Mensch, der den Geist nicht ausklammert. Und umgekehrt bedeutet „im Geist und in der Wahrheit anbeten“ nicht, den „fleischlichen“ Leib als Hindernis für den Geist abstreifen. Es stehen leider noch viele Menschen unter dem Einfluß jener griechischen Denkströmung, die das christliche Denken nachdrücklich beeinflußt hat.

Nicht geistige Verflüchtigung ist das Ziel der oben zitierten Stelle bei Johannes, sondern eine neue Einheit des Betens und der Gottesverehrung zwischen feindlichen Brüdern (bei Johannes: Juden und Samaritaner). Wenn auch von jedem Ort der Himmel gleich weit entfernt ist, gibt es doch den Wunsch nach räumlieher Nähe zu den Heilstaten Gottes — der Raum vermittelt über die Zeit hinweg eine dringliche, greifbare und materielle Heiligkeit von Personen, Sachen und Orten. Es ist ein altes religionsgeschichtliches Phänomen, daß der Boden, den die Gottheit berührt hat, qualitativ anders ist. An heuiger Stät-: te manifestiert sich das Heil, und der Pilger kann dem Heiligen nahe sein (durch Kosten, Schmek-ken, Sehen, Fühlen und Erfahren).

Im Judentum und im Islam sind. Wallfahrten vorgeschrieben. In Gen 22, in der dramatischen Versuchungsgeschichte Abrahams, steckt ein altes Wallfahrtsmotiv: Abraham zieht drei Tage mit seinen Knechten, sieht von weitem die heilige Stätte, geht allein hin, um anzubeten und kehrt dann wieder zurück. Die jüdische Tradition läßt Abraham schon nach Jerusalem pilgern, in jene Stadt, die für den Moslem „die Heilige“ ist. Wer heute nach Jerusalem kommt, erhält eine Wallfahrtsurkunde, unterzeichnet vom Minister für Touristik und vom Bürgermeister von Jerusalem, mit dem sinnigen Text: „N. N. ist hinaufgezogen gen Jerusalem, die Heilige Stadt, Hauptstadt Israels, hat damit die biblische Weisung befolgt und wurde so ein Jerusalem-Wallfahrer.“

Jeder Besucher, der mit einer Reisegruppe kommt, ist nicht gleich ein Pilger, auch wenn es ihm vom Touristik-Minister bestätigt wird. Und es wimmelt heute die Stadt von mehr Menschen als zu Zeiten des heiligen Hieronymus, und mancher fragt sich, ob angesichts des expandierenden Tourismus Pilgern noch möglich ist. Die es satt haben, viele heilige Stätten in Windeseile ab-zurasen, huldigen einem romantischen und verklärten Wanderradikalismus, der sie das Aussehen der Landschaft in biblischer Zeit erahnen läßt. Wenn sie noch dazu die Bibel wörtlich lesen, sind sie die lächerlichen paar Jahrtausende los (Zeitsprünge ohne Anstrengung). Wie könnte aber ein sachbezogenes Pilgern trotz und neben den touristischen Formen aussehen?

Eine Pilgerfahrt ins Heilige Land sollte nicht ein Glied in der langen Kette neuzeitlicher Wallfahrtsorte sein, denn das Ziel ist ein raumzeitliches Eintauchen in die Botschaft der Bibel und das Aufspüren einer sichtbaren Wirkungsgeschichte. Ein sachbezogenes Pilgern vermittelt die geschichtlichen, geographischen, archäologischen, exegetischen und theologischen Bezüge. Die Botschaft der Menschwerdung Gottes lebt aus diesen Quellen. Alt- und neutestamentliche Gestalten sind ohne diese Zusammenhänge blutleer.

Nicht, daß die Frage der historischen Echtheit vor der Frömmigkeit käme, aber ein kritischer Pilger verlangt nach der Unterscheidung von Sachverhalt und Erinnerung. Und das kann einem als direkte Frage in der Via Dolorosa in Jerusalem, bei den Patriarchengräbern in Hebron oder in der Geburtskirche in Betlehem widerfahren. Um ein historisches Bemühen darf sich der Pilger schon deshalb nicht drücken, weü es ihm um die räumliche Nähe zu den Heilstaten Gottes geht. Der Sinn des Pilgerns ins Heilige Land bleibt ein besseres Verstehen der Heiligen Schrift.

Die vorübergehende. Heimatlosigkeit wird auch als Ausdruck existentieller und lebenslanger Pilgerschaft gedeutet. Wenn auch das Christentum nicht das Wallfahrtsgebot kennt, so ist in entscheidenden Lebenslagen oder -abschnitten die Besinnung auf einen neuen Lebensstil durch eine Wallfahrt angeraten. Und gerade eine Umkehr zu unserer Glaubensgrundlage kann damit beginnen, daß sich der ganze Mensch in Bewegung setzt. Wer eine sachbezogene Pilgerfahrt ins Heilige Land unternimmt, bereitet sich entsprechend vor, setzt damit einen biblisch gestimmten Neuanfang und ist, wieder heimgekehrt, ein veränderter, aufmerksamer Hörer des Wortes Gottes in der Liturgie und ein eifriger Leser der Heiligen Schrift.

In diesem Sinn versteht das österreichische Katholische Bibelwerk den Sinn der Pilgerreisen ins Heilige Land und praktiziert sie so nun schon das zweite Jahrzehnt: Betrachtung der raumzeitlichen Gegebenheit (sachbezogen) und das Bedenken des Erscheinens des Ewigen (Pilgern).

Der Autor ist Mitarbeiter des Osterreichischen Katholischen Bibelwerkes.

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