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Ein Tribunal, bei dem die Richter Beifall klatschen

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Die Zukunft, die der liberale schwedische Politiker Per Ahlmark für die baltischen Staaten ausmalt, hat schon begonnen. In einigen Jahrzehnten werde die Eigenständigkeit Estlands, Lettlands und Litauens verschwunden sein, sagte Ahlmark nach Abschluß des „Baltikum-Tribunals”, das in Kopenhagen die Sowjetunion auf die Anklagebank setzte.

„Russische Masseneinwanderung hat die baltische Identität und politische Struktur ernsthaft gestört. Sprache, Kultur, Religion, selbst das Geschichtsbild im Schulunterricht haben unter der sowjetischen Herrschaft gelitten” verkündete nach Abschluß des Tribunals der Urteilsspruch der internationalen Jury unter dem Vorsitz des Innsbrucker Minderheitsexperten Theodor Veiter. „Die Besetzung und Annexion der einst unabhängigen baltischen Staaten ist ein vorrangiges Beispiel für die Verletzung internationalen Rechts durch die Sowjetunion.”

Heute schon leben etwa in Riga mehr Russen als Letten. Heute schon haben ältere Menschen, die das Russische nicht beherrschen, große Schwierigkeiten, in ihrem eigenen Land in Geschäften, bei Ärzten oder auf Ämtern bedient zu werden.

Von einer bewußten Politik der Sowjetunion erzählten auf dem

Kopenhagener Tribunal Exilbalten, die ihre Heimat, legal oder auf der Flucht, während der letzten Jahre verlassen haben. Man schaffe neue Arbeitsplätze, besetze sie mit jungen Russen und Russinnen und erwarte, daß sich so die russische Sprache und Kultur im Baltikum durchsetzen würden, um die dem Sowjetreich gefährliche nationale Eigenständigkeit der baltischen Republiken zu ersticken.

Dies sei, im Zusammenhang mit den freilich nicht aufs Baltikum beschränkten Menschenrechtsverletzungen, ein wichtiger Ansatzpunkt für den Westen, meint Per Ahlmark, Mitglied der Kopenhagener Jury. „Wenn wir die baltischen Staaten vergessen, vergessen wir uns selbst. Uns hätte es genauso gehen können” sagte Ahlmark.

„Die Verhältnisse in den baltischen Staaten engagieren uns nicht in gleicher Weise wie die in Polen, weil die baltischen Staaten nicht mehr selbständig sind, keine Regierungen haben und im sowjetischen Bewußtsein ausgelöscht sind. Es wirkt, als sehe die Welt ihr Schicksal für hoffnungslos an, nur weil die Sowjetunion einen großen Teil der Bevölkerung deportiert und ihre Wohnstätten mit großen Militärlagern erstattet hat. Es wirkt hoffnungslos. Aber gerade gegen diese Hoffnungslosigkeit sollte sich das Kopenhagener Tribunal wenden.”

Das Urteil des Baltikum-Tribunal fordert die Wiederherstellung von Selbstbestimmung und Nichtdiskriminierung der baltischen Völker. Gerade in diesen Tagen, in denen in Helsinki der zehnte Jahrestag der Unterzeichnung der KSZE-Schlußakte feierlich begangen wird, hofft die Organisation der in alle Welt zerstreuten Exilbalten auf verstärkte Aufmerksamkeit für das Schicksal ihrer alten Heimat: Die Rechte nationaler Minderheiten zählen zu den Prinzipien, zu deren Einhaltung sich auch die Sowjetunion durch ihre Unterschrift unter die Schlußakte verpflichtet hat.

Das Engagement für die Balten in allen Ehren: Doch das Kopenhagener Tribunal war nicht geeignet, Beobachter zu überzeugen. Das lag nicht an den Aussagen der als Zeugen aufgerufenen Exilbalten, die teils zwar oberflächlich längst Bekanntes wiederholten, teils aber auch präzise Details lieferten, die zeigten, daß sie wußten, wovon sie sprachen.

Die Richter jedoch konnten in keiner Phase den Eindruck vermitteln, daß es ihnen um saubere Beweisführung ging. Mit Suggestivfragen lockten sie — Ahlmark vor allem — den Zeugen just jene Sätze aus dem Mund, die sie gerne hören wollten. Auf kritisches Hinterfragen der von den Zeugen aufgestellten Behauptungen verzichteten sie völlig.

Statements statt Fragen

Den damaligen britischen Vizekonsul in Riga fragte Ahlmark, ob er in der Weltgeschichte ein anderes Beispiel einer Besetzung wie der baltischen Republiken kenne. Statt wie erwartet „Nein” zu sagen, antwortete Kenneth Benton, der 1938 in Wien Dienst gemacht hatte, „Österreich”. Ahlmark war mit der Antwort sichtlich unzufrieden, fragte aber nicht weiter. Das Thema kam während des zweitägigen Tribunals nicht mehr zur Sprache.

Im Urteilsspruch aber hieß es:

„Nirgends sonst in der Welt sind frühere parlamentarische Demokratien durch eine Siegermacht besetzt, annektiert und koloniali-siert worden.” Das mag ja stimmen. Aber auf diese Art darf ein Gericht, dessen Spruch ernst genommen werden will, nicht zu seinen Erkenntnissen kommen.

Daß Verhörfragen oft im Stil gegen die Sowjetunion gerichteter politischer Statements gestellt wurden, sodaß den Befragten gar nichts anderes mehr zu tun blieb als mit dem Kopf zu nicken, daß ein Richter gar nach einer Zeugenaussage Beifall klatschte, paßte in das Bild, das das Tribunal gab.

Per Ahlmark sagte anschließend, daß es „selbst in Geschäften ein Verbot” gebe, „anders als russisch zu sprechen.” Die Zeugin Rita Bruvers hatte geschildert, daß man heutzutage russisch können müsse, um in Riga einzukaufen, weil viele Verkäufer nicht lettisch gelernt hätten. Das ist doch ein Unterschied.

Auf der abschließenden Pressekonferenz forderte ein deutscher Journalist einen der anwesenden Kollegen sowjetischer Medien auf, heimzureisen und wahrheitsgetreu zu berichten, was er gehört habe. Als dieser sich zu einer Erwiderung erhob, entzog ihm Ahlmark das Wort: Das Tribunal solle nicht für „sowjetische Propaganda” mißbraucht werden. Der Großteil der Anwesenden klatschte Beifall.

Daß dies auf einer Veranstaltung geschah, die der Sowjetunion unter anderem auch den Bruch des Menschenrechts der Redefreiheit vorwarf, störte sie offensichtlich nicht.

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