6872668-1978_30_16.jpg
Digital In Arbeit

Ein „Ulster“ droht in Spanien

19451960198020002020

Die Welle von Gewalt und Terror, die sich während der vergangenen Wochen im Baskenland und in Navarra nahezu überschlug, machte ums anderemal das schwierigste aller Probleme offenbar, denen sich die junge spanische Demokratie gegenübersieht. Politisch maßgebliche Kreise sprechen bereits von einem „Krebsgeschwür“, dessen Bekämpfung seiner Größe und seiner Metastasen wegen sich als besonders schwierig erweise. Tatsächlich haben die Unruhen gezeigt, wie explosiv die politische Lage in Spaniens nördlichen Provinzen ist. Zwar sind die Rufe „An die Gewehre“ und „Bringt die Polizisten um“ etwas leiser geworden, doch der Haß gegen die Repräsentanten der Madrider Zentralregierung, vor allem gegen die Polizei, ist nur noch größer geworden, sitzt tief in der baskischen Volksseele. Prognosen über den Fortgang der Dinge sind zum jetzigen Zeitpunkt so gut wie unmöglich.

19451960198020002020

Die Welle von Gewalt und Terror, die sich während der vergangenen Wochen im Baskenland und in Navarra nahezu überschlug, machte ums anderemal das schwierigste aller Probleme offenbar, denen sich die junge spanische Demokratie gegenübersieht. Politisch maßgebliche Kreise sprechen bereits von einem „Krebsgeschwür“, dessen Bekämpfung seiner Größe und seiner Metastasen wegen sich als besonders schwierig erweise. Tatsächlich haben die Unruhen gezeigt, wie explosiv die politische Lage in Spaniens nördlichen Provinzen ist. Zwar sind die Rufe „An die Gewehre“ und „Bringt die Polizisten um“ etwas leiser geworden, doch der Haß gegen die Repräsentanten der Madrider Zentralregierung, vor allem gegen die Polizei, ist nur noch größer geworden, sitzt tief in der baskischen Volksseele. Prognosen über den Fortgang der Dinge sind zum jetzigen Zeitpunkt so gut wie unmöglich.

Werbung
Werbung
Werbung

Die Unruhe im Baskenland ist der Weltöffentlichkeit wohlbekannt. Weniger bekannt ist die auf den ersten Blick paradox erscheinende Tatsache, daß die gemäßigten Parteien bei den Parlamentswahlen vom 15. Juni 1977 in den baskischen Provinzen 74,7 Prozent und in Navarra gar mit 80,7 Prozent auf breiter Front triumphieren konnten. Die größte Überraschung dabei war der eindeutige Sieg des PNV, der „bürgerlichen“ und christdemokratischen baskischen Nationalpartei mit 13 Mandaten in den „Euzka-di“ genannten baskischen Provinzen (gegenüber 10 Sozialisten und 6 Sitzen für die Zentrumsunion). In Navarra ergab sich ein genau umgekehrtes Verhältnis der Stimmen: 6 Mandate für die Zentrumsunion der Regierung, ein Mandat für die Sozialisten und eines für die baskische Nationalpartei.

Da den anarchischen Gruppen die Legalisierung fehlte und da somit anzunehmen war, daß sie fürs erste die Wahlergebnisse nicht einfach hinnehmen würden, mußte man sich auf die Hoffnung beschränken, die Eingliederung der Hitzköpfe in den demokratischen Prozeß werde schrittweise erfolgen, je mehr die Normalisierung und die durch provisorische Autonomie garantierten Freiheiten sich auswirken würden. Die vorbereitenden Diskussionen zur neuen Verfassung boten hiefür ja genügend Zeit und Gelegenheit. Provisorische Autonomie war dem Baskenland mit einer Verordnung der königlichen Staatskanzlei am 6. Jänner 1978 gewährt worden. Diese Verordnung sah die Büdung eines baskischen Nationalrats vor und leitete damit den Föderalisie-rungsprozeß ein. Sie beseitigte zugleich alle Sanktionen, die der Region 1937 von der Franco-Regierüng auferlegt worden waren und die mit der Auflösung der „Fueros“ nicht nur die regionale Gesetzgebung, sondern auch verschiedene politische und wirtschaftliche Privilegien aus der Welt geschafft hatten.

Trotz allen Entgegenkommens seitens der königlichen Staatskanzlei, einem Entgegenkommen, das zwar zögernd erfolgte, seinem Sinne nach aber unmißverständlich war, gab es im Laufe der letzten zwölf Monate 70 baskische Attentate gegen Polizisten mit 15 Todesopfern, und etwa 100 Terroranschläge von zumeist äußerster Härte.

Wie erklären sich diese Anschläge? Mögen rechtsextremistische Gruppen auch provozierende Gegenschläge organisiert haben - die Mehrzahl der Attentate geht doch auf die Rechnung der anarcho-marxistischen ETA („Euzkadi ta azkatasuna“: „Baskisches Vaterland und Freiheit“).

Recht merkwürdig ist der Ursprung dieser Terrorgruppe. Sie war anfänglich nichts weiter als die Jugendorganisation der baskischen Nationalpartei, von der sie sich in den fünfziger Jahren mit der Begründung trennte, die Nationalpartei sei „bürgerlich“ und habe, nachdem sie eine Exilregierung in Frankreich aufgestellt habe, mit Franco kollaboriert. Die ersten Aktionen der ETA waren dennoch keineswegs terroristischer Natur. Erst als sich 1967 der kommunistische Einfluß beim fünften (illegalen) Kongreß der ETA durchzusetzen begann, schwenkte die ganze Bewegung auf eine terroristische Linie ein, die sich nach dem sechsten Kongreß 1970 noch verstärkte.

Damals teilte sich die ETA aus taktischen Gründen in zwei Aktionsgruppen: die politische und die politischmilitärische. Beide Gruppen erklärten sich als „im Kriegszustand mit der Franco-Regierung“ befindlich. In dieser Phase kollaborierte eine Unzahl von Geistlichen mit der ETA, ebenso ein Teil der Zivilbevölkerung, was die Terrorbekämpfung nicht wenig behinderte. Die Diktatur versuchte es immer wieder mit Verhängung des Ausnahmezustandes und mit militärischen Interventionen. Vergeblich! Dazu kam, daß die sehr abgekühlten Beziehungen zwischen Spanien und Frankreich den Terroristen weitgehende Möglichkeiten boten, im Nachbarland Zuflucht, wenn nicht sogar Unterstützung zu finden.

Auch anderes kam der ETA zu Hilfe: die Gebirgslandschaft, die bewaldeten und unzugänglichen Pyrenäentäler, unerforschte Höhlensysteme und

nicht zuletzt eine für Nicht-Basken vollkommen unverständliche Sprache. Als weitere, nicht zu unterschätzende Elemente kamen die Verwurzelung der ETA im Lande und die romantische Glorie jugendlicher Kämpfer für ungerecht unterdrückte nationale Freiheit hinzu. (Beides vermag allerdings auch, aber ohne Gewaltanwendung, die baskische Nationalpartei für sich zu buchen.)

All dies hätte mit der Inkraftsetzung des zur Debatte stehenden Verfassungsentwurfs sein gutes Ende finden können. Man hätte es durchaus verstanden, wenn die baskischen Nationalisten sich um Wählerstimmen für die Regional- und Gemeinderatswahlen bemüht hätten. Jede der bestehenden Gruppen hatte diese Chance, doch zeigte sich alsbald eine solche Fülle einander widersprechender Zielsetzungen und dementsprechend eine derart weitgehende Zersplitterung, daß die Bevölkerung kaum noch die ganze Palette zu überblicken vermochte, die von der Errichtung eines unabhängigen baskischen Staates (ETA) über föderalistische Lösungen (PNV) und Regionalismus (PSOE) bis zur simplen Dezentralisierung (UCD) .reichte.

Die ETA jedenfalls entschied sich für die Fortsetzung des bewaffneten Widerstandes. Ihre Bedingungen für eine „Feuereinstellung“ wären für keine wie immer geartete demokratische Regierung annehmbar gewesen und lauten:

• Totale und bedingungslose Amnestie sowohl für politische wie für kriminelle Gefangene.

• Legalisierung sämtlicher Parteien, auch der Anarchisten.

• Abzug der spanischen Exekutive und deren Ersatz durch eine autonome baskische Polizei.

• Baskischer Oberbefehl über die im Lande stationierten Streitkräfte.

• Baskisch als einzige Amtssprache.

• Totale Selbstbestimmung.

Um diese Bedingungen, die der Regierung Suärez als unannehmbar erscheinen mußten, dennoch durchzusetzen, versucht die ETA nunmehr auch das als besonders solid und konservativ bekannte Navarra zu revolutionieren. Navarra ist seiner Landwirtschaft und seiner Industrie wegen nicht zu unterschätzen. Die Provinz beherbergt eine baskische Minderheit und hat seinerseits eine provisorische Autonomie erhalten. Ein Referendum soll darüber entscheiden, ob Navarra autonom bleiben oder sich den baskischen Provinzen anschließen will Da der ETA klar ist, daß ein solcher Anschluß auf demokratischem Wege kaum zu erreichen sein wird, exportierte sie ihre Terrormethoden auch in die Nachbarprovinz. Diesen im Laufe langer Widerstandsjahre verfeinerten Methoden steht die Polizei so gut wie machtlos gegenüber. Mit demokratischer Urbanität ist da offensichtlich kaum etwas zu erreichen. Anderseits lösen harte Gegenschläge, von Kurzschlußhandlungen und Unbedachtheiten ganz zu schweigen, unabsehbare Folgen bei der Zivübevölkerung aus.

Die Nationalpartei PNV versucht unterdessen, ihr seit den allgemeinen Wahlen ein wenig angeschlagenes Pre-

stige aufzupolieren. Ihre Mandatare meldeten sich während der parlamentarischen Debatten um die neue Verfassung mit nicht geringer Härte zum Wort, wobei der sentimentale und teüweise utopische politische Stil der Basken in krassem Gegensatz zum pragmatischen und realistischen Stil der Katalanen geriet. Das Ergebnis ist eine Verständnislosigkeit auf beiden Seiten, die jegliches Verhandeln nur noch zusätzlich erschwert.

Die schwierige Situation spiegelt sich übrigens auch in der kirchlichen Hierarchie des Baskenlandes. Noch vor Erreichung der Altersgrenze hat Bischof Peralta von Vitoria um Genehmigung seines Rücktritts angesucht. Von Bischof Anöveros (Bilbao) verlautet, er sei krank und deprimiert, von Argaya (San Sebastian), er fühle sich überfordert. Die Bischofskoadju-toren versuchen unterdessen ihr Möglichstes, konnten sich aber bisher noch zu keiner expliziten Verdammung der ETA aufraffen, sie verurteilten lediglich die Gewaltanwendung ganz im allgemeinen. Viele, die sich in ihrem Streben nach totaler Autonomie von den demokratischen Organen immer noch gehemmt fühlen, fassen diese kirchliche Absage an die Gewalt natürlich so auf, als sei sie an die Adresse der Polizei gerichtet.

Wie der Sackgasse entrinnen? Dies ist eine Frage, die sich heute ganz Spanien stellt. Allgemein wird eine militärische Intervention abgelehnt; sie würde die Region in ein spanisches „Ulster“ verwandeln, das infolge der geographischen Gegebenheiten noch ungleich ärger wäre als das irische. Man versucht es also nach wie vor mit Verhandlungen. Die Regierung Suärez, in diesem Falle offiziell von den Kommunisten und mit Einschränkungen unterstützt von den Sozialisten, ist bereit, dem „Consejo General“ der Basken die größtmöglichen Vollmachten zu übertragen und auf diese Weise das Ultimatum der ETA zu überrunden, für die dann nur noch der Terror, nicht aber politische Zielsetzungen übrigblieben. Man hofft jedenfalls, auf dem Verhandlungswege über den Sommer und über die Verfassungsgespräche hinwegzukommen. Später könnte sich dann die Bevölkerung der Region in einem Referendum für die von ihr mehrheitlich gewünschte Form der Autonomie entscheiden.

In politischen Kreisen wurde bereits Österreichs Geschick bei der Lösung des Südtirolproblems erwähnt. Spanien muß das Baskenproblem meistern, will es seine junge Demokratie konsolidieren und will es als vollberechtigtes Mitglied 'einem integrierten Europa angehören.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung