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Ein Versuch der Bagatellisierung

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Neben fünf weiteren österreichischen Wissenschaftern hat der Generaldirektor der österreichischen Nationalbank, Heinz Kienzl, auf einer internationalen Tagung zum Thema „Überwindung des Faschismus in Europa 1944 -1980” Ende Juni 1985 in Bergen (Norwegen) in einem schriftlichen Referat Thesen vorgestellt, die er wenige Tage' danach in Österreich auf einer Pressekonferenz wiederholt hat.

Kienzl hat dabei einerseits auf die Bergen-Konferenz bzw. auf einzelne Teilnehmer Bezug genommen und den Anschein erweckt, als hätten diese seine Thesen approbiert; andererseits hat er klar zu erkennen gegeben, es gehe ihm darum, das seit einigen Monaten zur Diskussion stehende Gesetz über die „Auschwitz-Lüge” zu verhindern.

Ich erblicke darin einen Tatbestand, der wegen seiner Langzeitwirkungen energischen Widerspruch verdient.

Kienzls Kernthesen lauten: „Jene, die sich zum Gesamtkomplex des Nazismus bekennen, stellen eine Minderheit von einem Promille dar.” Und: „Die nationalsozialistische Weltanschauung ist Mitte der achtziger Jahre in Österreich praktisch ausgestorben.” Er belegt seine Thesen, die im übrigen schon neun Jahre alt sind und von neueren, zum Teil vom IFES-Institut selbst durchgeführten Studien widerlegt wurden, durch Ergebnisse einer Meinungsumfrage teils aus 1976, teils aus 1985.

Ich meine, daß die Belege Kienzls in Anbetracht der historischen Ungeheuerlichkeit, die aus einem ideologischen Syndrom dieser Art hervorgegangen ist, für sich selbst sprechen.

Wesentliche Elemente der Ideenwelt des Nazismus, zu dem Österreicher ganz überproportional viel beigetragen haben (etwa Adolf Hitlers weltanschauliche Schulung in Linz und Wien, die Erfindung des „Nationalen Sozialismus” in Deutschböhmen, die Unterstützung der NSDAP und des „Anschlusses” von 1938, zahlreiche führende Exekutoren des SS-Terrors und der Judenvernichtung), leben auch heute noch in unserem Lande mehr oder weniger verborgen weiter.

Ich behaupte deswegen nicht, der Nationalsozialismus selbst sei in Österreich lebendig. Er wurde in unserem Land durch die Alliierten im Zweiten Weltkrieg von außen her besiegt, wie die Diktaturen in allen anderen faschistischen (bzw. nazistischen) Kernländern auch.

Deshalb halte ich auch den Neonazismus, trotz seiner vor allem in Deutschland erwiesenen Verbindung mit einem höchst gefährlichen Rechtsterrorismus, nicht für eine aktuelle Bedrohung unseres sehr stabilen politischen Systems.

Nur: Das Syndrom von Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit, Autoritätsgläubigkeit, das sich historisch eben nicht auf den Nationalsozialismus beschränkte, diesen jedoch hervorbrachte, und ihm erst zum Massenerfolg verhalf, dieses Syndrom ist immer noch viel zu stark gerade auch unter Österreichern verbreitet, selbst wenn diese Tendenzen heute erfreulicherweise abnehmen.

Wenn diese Fortschritte im Demokratiebewußtsein erzielt wurden, dann wohl wegen einer jahrelangen, wenigstens teilweise kon-sensualen politischen Bildung und keineswegs gegen einen „ideologischen Masochismus” und gegen das Wirken von „Berufsantifaschisten”, wie Kienzl meint.

Kienzl, dessen Studie nicht anführt, auf welche sozialwissenschaftliche und historische Autoren sie sich bei ihren Aussagen über die NS-Ideologie stützt, liegt auch falsch, wenn er annimmt, alle Wähler, Parteimitglieder, Aktivisten und Unter-Führer der NSDAP hätten alle Elemente der NS-Ideologie für bare Münze'ge-nommen. Für den einen standen der Antisemitismus, für den anderen die Anschlußfrage und die nationale Wiedererstarkung der deutschen Nation, zu der sich bis 1933 wohl die Mehrheit der Österreicher bekannte, für wieder einen anderen die mittelständische Krisenüberwindung im Vordergrund.

Umgekehrt ignorierten die meisten Nazis Dogmen ihres „Führers”, wo es ihnen nicht paßte. Deshalb dürfte auch kaum jemand der Zeitgenossen „Mein Kampf” so ernst genommen haben, daß er ihn ganz gelesen hätte.

Gerade weil es dem Nationalsozialismus gelang, chamäleonartig den verschiedensten Sozialgruppen eine jeweils andere Facette seines vielschichtigen Ideen- und Interessenkonglomerats glaubhaft zu machen, konnte er sozialstrukturell eine „mittelständische Volkspartei” werden und so die Voraussetzung zum Massenerfolg erlangen. Aber erst mit der Verschärfung und dem Sich-Uberla-gern verschiedener gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Krisen und den politischen Erfolgen Hitlers gewann der Nazismus lawinenartigen Zulauf.

Der Nationalsozialismus war daher ursprünglich kein stabiles politisches Phänomen, sondern eine fluktuierende „Bewegung”, die erst durch die Machtübernahme stabilisiert wurde. Daher verliefen sich die meisten NS-An-hänger nach der Niederlage ihres „Reiches” so sang- und klanglos in vielerlei Parteien, ohne meist ihre vagen ideologischen Grundeinstellungen aufgeben zu müssen.

Methodologisch ist das Vorgehen der Studie Kienzls auch aus einem weiteren Grund mehr als problematisch. Wie jeder Schüler der Mengenlehre einsieht, ist es durch Hinzufügen oder Wegnehmen von einzelnen Mengen (Dimensionen der NS-Ideologie) möglich, nahezu nach Belieben ganz verschiedene Zahlenwerte für die gesamte Schnittmenge (NS-Ideologie insgesamt) zu generieren.

Kein Mißbrauch

Noch bedenklicher als der fachwissenschaftliche erscheint mir ein weiterer Aspekt, der wissenschaftspolitische Hintergrund der Kontroverse: Kienzl hat versucht, eine internationale wissenschaftliche Veranstaltung für politische Argumentation innerhalb Österreichs einzuspannen und kritische Einwände dagegen als Schädigung des Ansehens Österreichs im Ausland zu diffamieren. (Sollte es sich dabei um beginnende Parallelen zu Geistesgeschichte der Ersten Republik und der Weimarer Republik handeln?).

Die Resolution der Kerngruppe der Bergen-r^onferenz wird in Hinkunft einen solchen Mißbrauch unmöglich machen, es sei denn, es solle damit volle Absicht demonstriert werden.

Schließlich ist auch der staatspolitische Gegenstand von Kienzls Vorstoß alarmierend: nicht weil der Nationalbankgeneraldirektor gegen das AntiAuschwitz-Lüge-Gesetz auftritt — auch ich meine, daß eine funktionierende Demokratie erst als allerletztes Mittel eine solche Maßnahme ergreifen sollte —, sondern weil er das Problem als solches, das Weiterleben von Elementen der NS-Ideologie, bagatellisiert.

Nicht durch Verdrängung des Problems, nur durch eine vertiefte Verankerung einer undogmatischen politischen Bildung und Aufklärung über (Neo-) Nazismus im Schulunterricht und im gesamten Alltagsleben können die Schatten unserer ungeheuer schwer wiegenden Vergangenheit überwunden werden.

Der Autor ist Professor für Osterreichische Zeitgeschichte an der Universität Salzburg und Leiter des Ludwig-Boltzmann-Institutes für Historische Sozialwissenschaft.

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