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Ein Volk im Würgegriff
Beklemmende Eindrücke hat die Internationale Hei- sinki-Föderation aus dem Kosovo mitgenommen. Hier der Bericht eines Delegati- onsmitglieds, das des Lan- des verwiesen wurde.
Beklemmende Eindrücke hat die Internationale Hei- sinki-Föderation aus dem Kosovo mitgenommen. Hier der Bericht eines Delegati- onsmitglieds, das des Lan- des verwiesen wurde.
Wer sich ein Bild von der aktuel- len Situation im Kosovo machen will, braucht eine Sondererlaubnis der serbischen Behörden. Das ist neu. Das wurde sowohl der Delega- tion der Internationalen Helsinki- Föderation (Wien) klar als auch einigen ausländischen Journalisten, die ebenfalls vorübergehend fest- genommen worden waren.
Die Behörden haben ganz offen- sichtlich guten Grund, von ihrem Standpunkt aus, Gäste mit wachen
Augen und klaren Fragen nicht willkommen zu heißen. Was man sieht, ist beklemmend.
Zum Beispiel: Die Kosovo-Regie- rung und das Parlament wurden einfach eliminiert und durch ein serbisches „Direktorium" ersetzt. Albanisch-sprachige Zeitungen und Zeitschriften wurden verboten und von serbisch-gelenkten, außerhalb des Kosovo produzierten Informa- tionsorganen abgelöst. Bisher ha- ben rund 15.000 Menschen ihre Arbeitsplätze verloren - unter ih- nen 350 Ärzte und Krankenhaus- mitarbeiter, davon allein 60 Fach- ärzte in der Hauptstadt Priätina. Sie werden von serbischen Kolle- gen ersetzt (übrigens offenbar auch von Ausländern).
Albanische Patienten haben Angst, in die neubesetzten Klini- ken zu gehen. Technisches Perso- nal aus Serbien hat am 3. Septem-
ber die regionale Administration in allen Bereichen übernommen. Ein Volk im Würgegriff.
Lebensmitteltransporte von Al- banern aus der Nachbarrepublik Mazedonien - Mehl und Öl - wer- den abgewiesen, Medikamentende- pots in Krankenhäusern und Kir- chen beschlagnahmt. Sollte man solche Zustände im heutigen Euro- pa für möglich halten?
Was aber kann man schon erwar- ten, wenn der aus Serbien ins Koso- vo delegierte Justizminister Djord- je Aksic zum Beispiel den Vertre- tern der IHF klipp und klar erklär- te: „Natürlich ist Serbien jederzeit zu einem Dialog bereit, aber nicht über die Zukunft des Kosovo. Ko- sovo ist und bleibt serbisch. Ein Kosovo unter albanischer Herr- schaft ist undenkbar." Was meint er wohl, worüber sonst ein Dialog zu führen sei?
Oder: Der neue Direktor der Universitätsklinik in Priätina, der Montenegriner Professor Bulajic,
erklärte uns wortreich, daß die albanischen Ärzte dort ihren pro- fessionellen Pflichten nicht nach- gekommen seien, daß sie immer zu „Sitzungen" gingen, wann es ihnen paßte, und daß sie deshalb gekün- digt worden seien. Auf unsere Fra- ge, ob er eine Vorstellung habe, warum sich die Ärzte so verhielten, antwortete er blitzschnell und emotionsgeladen: „Weil sie uns Kosovo wegnehmen wollen."
Nicht weniger erschreckend ist die Tatsache, daß die schon erwähn- ten Kündigungen von Arbeitern und Angestellten auf vorgedruckten Formularen erfolgen, auf denen nur mehr die Personalien eingefügt werden - die Begründung steht
schon drauf: Weil Herr/Frau XY nicht fähig ist, die ihnen zugeteilte Arbeit zufriedenstellend auszufüh- ren, muß er/sie den Arbeitsplatz verlassen. Was sagen da unsere Gewerkschaften zu solchen Metho- den im Nachbarstaat?
Kürzlich sind der Vorsitzende der Unabhängigen Gewerkschaft im Kosovo, Hajrullah Gorani, und sein Stellvertreter, Ilir Tollaj, zu je 60 Tagen Gefängnis verurteilt worden, weil sie zu einem eintägigen Gene- ralstreik als Protest gegen die ser- bische „Okkupation" aufgerufen hatten. Obwohl sie den 3. Septem- ber im Gefängnis verbrachten, wurde ihre Parole „Niemand geht auf die Straße, Kinder bleiben zu
Hause, keinen Anlaß zu Poli- zeieingriffen geben!" voll und ganz befolgt. Auf die Straße gingen nur Serben.
Das vielleicht Schlimmste aber ist die teils schon durch- geführte und noch weiter ge- plante Segregation in den Schulen. Wollen die einst so europäischen Serben sich selbst zu Südafrikanern ver- wandeln? Mauern sollen durch Schulhöfe gezogen, getrennte Eingänge und Klassen ge- schaffen werden. Vorläufig trennt man die Unterrichts- zeiten - albanische Kinder am Nachmittag, serbische vormit- tags.
Innerhalb und außerhalb Ju- goslawiens führen die Serben die Öffentlichkeit eigentlich an der Nase herum. Im Frühjahr dieses Jahres hoben sie zwar den Ausnahmezustand im Ko- sovo auf, stattdessen erarbei- tete das serbische Parlament einen Codex für „Ausnahme- fälle". Mit diesen Ausnahme- gesetzen müssen jetzt die Al- baner im Kosovo leben. Sie haben keine eigene Gerichts- barkeit mehr, jede Anklage kommt vor ein serbisches Ge- richt.
Die Albaner, 90 Prozent der regionalen Bevölkerung im Kosovo, verlangen ihre Gleich- stellung mit den anderen Nationen (Völkern) Jugoslawiens. Im Klar- text heißt das, daß sie eine Repu- blik Kosovo errichten wollen - innerhalb Jugoslawiens, wie immer dieses in Zukunft aussehen wird. Voraussetzung dafür wäre die ju- goslawische Demokratisierung. In ihrer gegenwärtigen Situation zei- gen die Kosovo-Albaner eine der- artige Solidarität und Disziplin und ihre Intellektuellen einen so außer- ordentlich hohen Grad an Verant- wortung, daß das serbische Volk sie geradezu beneiden muß. Wir sind Zeugen eines gewaltlosen Wider- standes - und eines Bürgerkriegs zugleich, in dem nur die eine Seite Gewalt anwendet.
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