Armenien: Ein Volk in Aufruhr

19451960198020002020

Im Ringen um die Identität spielten und spielen für die Armenier der christliche Glaube, der Kampf um ein eigenes Territorium und — als Reminiszenz an die jüngere Geschichte - die Anerkennung der schrecklichen Ereignisse des Jahres 1915 als Völkermord die bedeutendste Rolle.

19451960198020002020

Im Ringen um die Identität spielten und spielen für die Armenier der christliche Glaube, der Kampf um ein eigenes Territorium und — als Reminiszenz an die jüngere Geschichte - die Anerkennung der schrecklichen Ereignisse des Jahres 1915 als Völkermord die bedeutendste Rolle.

Werbung
Werbung
Werbung

Die Hälfte der vierwöchigen Bedenkzeit, um die die Moskauer Führung die Armenier—vertreten durch den Schriftsteller Sorij Ba-lajan und die Poetin Silva Kapu-tikjan - gebeten hat, ist fast um. Michail Gorbatschow kehrt heute von seinem Jugoslawien-Trip in die Sowjetunion zurück und ist sofort wieder mit dem blutigen Konflikt zwischen dem islamischen Aserbeidschan und dem christlichen Sowjetarmenien konfrontiert.

Dabei suchen die Armenier — und das unterscheidet die seit 20. Februar aufflackernden Unruhen grundlegend von jedem anderen Nationalitätenhader in der Sowjetunion — den Schutz Moskaus. Erstmals in der fast siebzigjährigen Geschichte Sowjetarmeniens geschieht dies durch derartige Massendemonstrationen, die beinahe ein Drittel der 3,5 Millionen Sowjetarmenier aus allen Landesteilen in die Hauptstadt Ere-wan brachten.

Die erstaunliche Diszipliniertheit des armenischen Volkes, die nicht einmal nach den Greueltaten durch den aufgestachelten aserbeidschanischen Pöbel verlorenging, liegt in der hohen Kultiviertheit der Armenier begründet. Die — offiziell eingestandenen - 35 Toten und Hunderten Verletzten, die der Terror auf den Straßen Bakus und Sumgaits unter den dort lebenden Armeniern forderte, haben das Volk nur noch stärker zusammengeschweißt.

Die während ihrer jahrtausendealten Geschichte leidgeprüften Armenier sind heute davon geprägt, daß sie ihr Recht auf Heimat mit dem Blutpreis bezahlen mußten. Ein wesentlicher Teil des Bewußtseins der Armenier wird vom ersten Genozid des 20. Jahrhunderts bestimmt, begangen 1915 von der damaligen Türkei am armenischen Volk, das seither in aller Welt zerstreut lebt.

Im Ringen um die Identität spielten und spielen für die Armenier der christliche Glaube, der Kampf um ein eigenes Territorium und — als Reminiszenz an die jüngere Geschichte - die Anerkennung der schrecklichen Ereignisse des Jahres 1915 als Völkermord die bedeutendste Rolle.

Der im Westen in den Jahren 1975 bis 1985 mächtig auftretende armenische Terror richtete sich in erster Linie gegen die Türkei und ihre Einrichtungen. Von den Sowjetarmeniern wurde Terror immer abgelehnt. Insbesondere hat dies das Oberhaupt der Armenisch-Apostolischen Kirche, Ka-tholikos Vasken I., getan.

Die jüngsten Ereignisse in Sowjetarmenien bewertet der in Wien residierende Bischof für die armenische Diözese Mitteleuropa, zu der Österreich, Deutschland und Schweden gehören, äußerst positiv. „Ein ganzes Volk“ -so Mesrob Krikorian zur FURCHE — „hat nach so vielen Jahren seine Seele und Zugehörigkeit gefunden.“ Die Resolution vom 20. Februar des Abgeordnetenrates in Berg-Karabach, das auf der Grundlage unglückseliger Verträge aus den Jahren 1920 und 1921 seit Juli 1923 zu Aserbeidschan gehört, die Region an die Armenische SSR anzugliedern, wird vom gesamten armenischen Volk unterstützt.

Von der Rückgabe Berg-Kara-bachs (auf Armenisch: Arzach) und der Region Nachitschewan träumen die Armenier seit Jahrzehnten. Die brutale Nationalitätenpolitik Stalins hat sogar den Traum zu unterdrücken versucht. Seit etwa 15 bis 20 Jahren, berichtet Bischof Krikorian, wird ein intellektueller Kampf um die armenische Einheit gerührt.

Unmittelbarer Ausgangspunkt für das Näherrücken der Armenier war eine aserbeidschanische Geschichtsschreibung, die die christliche Kultur einfach negierte beziehungsweise als vor-christ-lich erklärte. Armenische Historiker haben sich schon seinerzeit mit der Bitte an Moskau gewandt, dieser geschichtlichen Vergewaltigung Einhalt zu gebieten.

Moskau verhielt sich meistens neutral. Die Sache war zu heikel, „Ruhe und Ordnung“ standen auf dem Spiel. Trotzdem erhielten Nationaldichter - als Narren bezeichnet und nicht ernst genommen — eine gewisse Bewegungsfreiheit.

Der Khomeini-Fundamentalis-mus mit seinen aggressiven Propagandasendungen in Richtung Aserbeidschan schürte seit 1980 die anti-armenischen Emotionen. Armenien selbst ist es bis heute verboten, nach Karabach zu senden. Angeblich hat Gorbatschow zugesagt, dieses Verbot aufzuheben.

Die verstärkte islamische Propaganda aus dem Iran hat die Armenier im In- und Ausland nur weiter motiviert, die Zusammenführung der armenischen Gebiete zu fordern.

Und Moskau wird in diesem Zusammenhang als Schutzmacht gesehen. „Im Notfall hilft uns in diesem Teil der Welt niemand anderer. Der Konflikt mit Aserbeidschan hat nichts mit dem Sowjetsystem zu tun“, betont Bischof Krikorian. „Die volle Selbständigkeit für unser Land wäre zu diesem Zeitpunkt eine Katastrophe. Wir brauchen wirtschaftliche, aber auch militärische Hilfe in einer feindlichen Umwelt.“

Es scheint, daß Moskau einen Weg sucht, die Anliegen der Armenier zu unterstützen und damit dem Islam einen Riegel vorzuschieben - schließlich kann man sich ja auch auf gemeinsame christliche Traditionen berufen. Armenische Kreise in Wien sprechen in diesem Zusammenhang von einer großen Hoffnung — auch im Interesse der Sowjetunion -gegen den Fundamentalismus aus dem Iran.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung