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Ein Vorbild unserer Zeit

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Zehn Jahre nach der Unterzeichnung der sogenannten Helsinki-Schlußakte mit der Verpflichtung zu Gewissens- und Religionsfreiheit ist Moskaus Bilanz der Verletzung und Vorenthaltung von Menschenrechten enttäuschend. Die Unterschrift des damaligen Kremlchefs Leonid Breschnew unter das Dokument hat die Hoffnungen jener, die sich unter persönlichen Gefahren in den Dienst einer menschenwürdigen Gesellschaft gestellt haben, nicht bewahrheitet.

Weü sich diese Selbstlosen, von den Medien des totalitären Regimes als Andersdenkende und Nestbeschmutzer Geschmähten nicht mit Scheinerfüllungen hatten abspeisen lassen, mußten sie, viele von ihnen, mit Zwangsemigration, Lagerhaft oder Behandlung in den berüchtigten Heilanstalten bezahlen. Friedensnobelpreisträger Andrei Sacharow, die Zentralfigur im Widerstand gegen eine unmenschliche Obrigkeit, ist nach dem fernen Gorki und von der Welt isoliert.

Das „internationale Sacharow-Hearing” am 10. und 11. April in London hielt der Weltöffentlichkeit nun zum fünftenmal das entmutigende Register des Kreml in der Mißachtung eines völkerrechtlich bindenden Abkommens vor. Unter Breschnews Nachfolgern ist der Druck auf die Dissidenten in den meisten Fällen verstärkt worden, politische Gefangene im Osten leiden unter härteren und längeren Strafen.

Unter diesen Umständen liegt es nahe, die Signatarmächte aufzufordern, ein allem Anschein nach wertloses Abkommen für nichtig zu erklären. Doch die Mehrheit der 300 Konferenzteilnehmer sah es anders: Das in den Folgekonferenzen von der Sowjetunion gebilligte Dokument ist ein wertvoller Gradmesser der Verstöße, Grundlage, um den Kreml über alle verfügbaren Kanäle zur Einlösung zu drängen.

Die östliche Großmacht braucht die wirtschaftliche Kooperation des Westens und könnte solchermaßen zum Kompromiß bewegt werden. Doch allzu große Erwartungen vermag der neue Parteichef Michail Gorbatschow in dieser Hinsicht nicht zu wek-ken.

Was würde Gorbatschow verlieren, wenn er den Verbannten Andrei Sacharow aus seinem Exil befreite oder ihn gar in die Emigration außer Landes entließe? Dank und Anerkennung in der Weltmeinung wären ihm sicher. Für die Machthaber in der Sowjetmetropole ist der gegenwärtig mundtot gemachte Atomphysiker allerdings immer noch Symbol und Angelpunkt der „prawo-sastschitnoje dwishenije”

(rechtsverteidigende Bewegung).

Wird Sacharow von der Umwelt abgeschnitten, dann läuft sich nach der Rechnung des Kreml das verhaßte Dissidententum zu Tode.

Worin besteht die außerordentliche Wirkung jenes Mannes, den Simon, Wiesenthal in London „den größten Vertreter des Humanitätsgedankens in unserer Zeit” genannt hat und von dem sich sogar die Mächtigen im roten Weltreich bedroht fühlen?

Es ist die Persönlichkeit und die Uberzeugung des verfolgten Humanisten, der auf seine Privüegi-en verzichtet hat, um den unterdrückten Mitmenschen zu helfen. Gewaltlosigkeit ist das Credo Sa-charows in einer Welt, deren soziale Probleme blutig entschieden wurden und werden. Aktive Veränderung in der Gesellschaft, ja, aber ohne Nötigung und Zwang.

Nicht die wirtschaftlichen Veränderungen erwirken den Fortschritt der Gesellschaft, wie der Marxismus lehrt, sondern das Maß, nach welchem die dem Menschen natürlich innewohnenden Rechte vom Gemeinwesen gewährt und gefördert werden. Nur wenn eine Gesellschaft ihre Mitglieder mit den Individualrechten ausstattet und die Menschenwürde sichert, kann sie sich entfalten. Dort, wo Demokratie fehlt, bleibt das Kreative auf der Strecke.

Der Kampf um Freiheiten und Würde besteht—insbesondere seit Helsinki - darin, die Obrigkeit auf jenen Zugeständnissen festzulegen, die sie in der Konstitution, in international gültigen Verträgen formell verbrieft hat; die Auseinandersetzung also nicht auf Barrikaden und im Untergrund, sondern auf dem vom Staate selbst freigegebenen Raum. Darin folgen die Bürgerrechtskämpfer ihrem Vorbild.

„Sacharow ist das Bild höchster moralischer Autorität, das Beispiel des stillen Mutes, das den Boden der Realität in keinem Augenblick verloren hat. Es entspricht der Humanität Sacha-rows, allen, auch dem unbedeutendsten Menschen, Gutes zu tun.” Das sagt der Sowjetemigrant Pjotr Jegides, der eben ein Buch über den Friedensnobelpreisträger geschrieben hat.

Der Parteiobrigkeit ist Sacharow ein Dorn im Auge, nicht nur, weü sie in ihm ihren Antipoden erblickt, sondern weil allein schon seine Existenz die Gefahr immer neuen Dissidententums birgt. Deshalb wurde Sacharow exiliert und später auch dessen Frau.

Nun droht die Partei, die kranke Lebensgefährtin nach Sibirien zu schicken, wenn Sacharow sein Schweigen bricht. Gegen diese Art der Erpressung ist er machtlos.

Doch Schweigen ist nicht Kapitulation. Das zeigt Sacharows letzte Reaktion: Er werde auf seine Zugehörigkeit zur Akademie verzichten, sollte seiner Frau die nötige Operation versagt bleiben.

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