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Ein Winter ohne Ende?

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Der Herbst hat das Land an der Weichsel mit seiner bunten Farbenpracht geschmückt. Die späte Oktobersonne überdeckt wohlwollend das Grau, das über Polens Städten liegt. Rein äußerlich ist wieder Ruhe eingekehrt.

Der Verkehr auf den Uberlandstraßen, die die FURCHE-Reise vom 22. bis zum 26. Oktober durch Polen passiert, ist, von spärlichen Wirtschaftstransporten abgesehen, dünn. Kein Wunder: Die Treibstoffrationierung auf Bezugsschein — nichts gibt es ohne diesen — läßt keinen normalen In-dividualverkehr zu.

Trotzdem passiert man auffallend viele „Radarkontrollen" der Miliz. Was soll die Überwachung eines Verkehrs, der nicht fließt?

Das System hat System. Und das Radar ist ein willkommener Vorwand, jeden verdächtigen Uberlandfahrer zu stoppen und zu kontrollieren: Es könnte ja ein Aktivist der verbotenen Solidarnosc mit Flugblättern unterwegs sein.

Wadowice, der Geburtsort des Papstes 47 Kilometer südwestlich von Krakau, Krakau selbst mit seiner Industrievorstadt Nowa Huta, Schauplatz jener Demonstration, bei der Mitte Oktober der 20jährige Bogdan Wlosik von einem Sicherheitsbeamten erschossen wurde, das 600jährige Tschenstochau, Warschau und Breslau sind die Stationen dieser FURCHE-Reise - und überall ist die offiziell liquidierte Solidarnosc präsent. Eine lebendige Idee läßt sich nicht internieren.

Während am 23. Oktober die polnische Presse der Bevölkerung die Mitgliedschaft zur neuen Marionetten-Gewerkschaft schmackhaft zu machen versucht (Privilegien für Mitglieder und deren Familien für Wohnungen, Kindergartenplätze, Sozialzuwendungen und Urlaube), intonieren Straßenmusiker, umringt von Passanten, vor den Tuchhallen am Krakauer Hauptplatz die Hymne der Solidarnosc: „... zum Siegesmarsch tritt an die polnische Solidarität."

In Tschenstochau drängen mehr Pilger denn je zum Gnadenbild der Schwarzen Madonna. Ein Blumenkreuz bei der Mariensäule am Fuße der Jasna Göra, geschmückt mit Solidarnosc-Fähn-chen, sammelt ebenso die Pilger zu Gebet und Gesang. Ganz offen tragen hier junge Menschen das Abzeichen der verbotenen Gewerkschaft und verteilen Solidar-nosc-Etiketten.

In Warschau versammeln sich am 24. Oktober abends die Menschen bei den Blumenkreuzen vor der St. Anna-Kirche und der Kirche der Visitandinerinnen, singend, betend, die Hände zum Vic-tory-Zeichen erhoben: Danuta Walesa hatte erklärt, daß es ihr Mann abgelehnt habe, sich durch die Unterstützung der neuen Gewerkschaft freizukaufen.

In der Nacht auf Montag hat die Miliz alle Hände voll zu tun, Blumenkreuze und Plätze von Soli-darnosc-Bekenntnissen zu säubern. Damit kommt sie auch in Breslau nicht nach — obwohl das „S" zumeist nur mit Kreide auf Mauern geschrieben steht.

„So eine große und tiefgehende Bewegung kann man nicht erstik-ken, man kann das nicht rückgängig machen", ist ein prominenter katholischer Intellektueller Polens auch heute noch überzeugt — zehn Monate nach der Verhängung des Kriegsrechtes und wenige Tage nach der offiziellen Liquidierung der Solidarnosc.

„Die Nation", meint er im Gespräch mit der FURCHE, „hat ihr Antlitz verändert, eine neue Gesellschaft ist im Status nascendi."

Derzeit sei die Lage sehr ernst, alles laufe auf eine Konfrontation hinaus, auch wenn sich da und dort eine gewisse Müdigkeit bemerkbar mache.

Durch die Verhaftungen und Internierungen „hat das Volk seine Führung verloren. Jetzt verläuft alles spontan, unvorhersehbar."

Vorhersehbar dagegen ist, daß diesem schönen Herbst ein Winter folgt, der härteste Winter bitterer Not seit dem Krieg. Ein Winter ohne Ende? -

Der Fünf-Punkte-Notplan des polnischen KP-Zentralkomitees vom 28. Oktober wird an der Not nur wenig ändern.

Der Druck aber, das Wirtschaftssystem zu ändern, meinen polnische Gesprächspartner übereinstimmend, werde von Tag zu Tag größer. Eine Reform muß kommen — und damit keimt auch neue Hoffnung.

Generäle und Partei können zwar auf dem Papier reformieren. Aber mit welchem Erfolg?

„Es gibt keine erfolgreiche Wirtschaftsreform ohne Zustimmung des Volkes", ist man im Vorfeld der Kirche überzeugt. Eine Reform gegen das Volk, eine Fortsetzung des harten Kurses, würde „den Streik der Hirne, den Streik der Halbarbeit", wie das Stefan Bratkowski nannte, erst recht provozieren.

Daher werde das Regime auch im eigenen Interesse wieder Gespräch und Kontakt „mit den authentischen Kräften des Volkes" aufnehmen müssen.

Kommt es zu diesem Dialog und damit zum Ende des politischen Winters, kann das wieder nur die Kirche vermitteln: Sie ist weit und breit die einzige konsolidierte Kraft im Lande.

Kommt es nicht zu diesem Dialog, sind die Folgen unabsehbar — auch für General Wojciech Jaruzelski und sein Regime.

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