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Ein Wort an die Jungen

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Der Rektor der Universität für Bodenkultur begrüßte die Hörer des ersten Semesters mit einer kurzen Einführung in die Probleme, die sie auf der Universität erwarten. Wir zitieren daraus:

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Der Rektor der Universität für Bodenkultur begrüßte die Hörer des ersten Semesters mit einer kurzen Einführung in die Probleme, die sie auf der Universität erwarten. Wir zitieren daraus:

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Sie kommen von höheren Schulen an die Universität Das ist kein leichter Übergang. Sie erleben die moderne Massenuniversität, in der das Individuelle besonders am Anfang des Studiums zu kurz kommt. Sie erleben nach der persönlichen Umwelt der Schule den für Sie anonymen Hochschulbetrieb, in dem der Kontakt zwischen Lehrer und Studenten erschwert ist. Sie sind allein, ohne Klassen- und Schulgemeinschaft. Sie ahnen die Menge des Lernbaren und haben vielleicht den

Eindruck eines Chaos. Sie müssen selbständig sein.

Wir können den Übergang durch Orientierungshilfen, Einführungs- und Kontaktveranstaltungen erleichtern. Aber den Schritt zur Selbständigkeit müssen Sie selbst machen. „Habe Mut, Dich Deines Verstandes zu bedienen!“ ruft Kant uns zu. Zu dem Wagnis des Erkennens ist die Universität berufen, zum ursprünglichen und unbedingten Wissenwollen. Sie ist der Annäherung an Wahrheit als Ziel durch Wissenschaft als Mittel verpflichtet.

Forschung ist ihre Grundaufgabe und damit ist die Lehre als Teilnahme am Forschungsprozeß verbunden. Die Verbindung von Forschung und Lehre unterscheidet die Hochschulen von anderen Forschungsstätten und von anderen Schulanstalten. Der Student sollte sich schon zu Beginn des Studiums dieser Verbindung von Forschung und Lehre als Prinzip der Universität bewußt werden und es verbreitern.

Keine Vorschrift ordnet im einzelnen an, wie Sie Ihre Studienzeit nützen sollen. Darin liegt Vertrauen zu Ihrer Selbständigkeit. Dieser Vertrauens vorschuß liegt auch in der freien Zugänglichkeit der Hochschulen. Er liegt schließlich auch dem Prinzip des kostenlosen Studiums zugrunde.

Die akademische Freiheit belastet und verpflichtet. Sie belastet mit Verantwortung, sie verpflichtet zur Leistung und Rechenschaft. Sie hängt eng zusammen mit dem Ausspruch des Sokrates, daß Erkenntnis unserer Unwissenheit der Anfng der Weisheit ist. Wir wissen wenig und auch der Weiseste weiß noch wenig: Daher bedeutet die Freiheit des Forschens, Lehrens und Studierens, die Vielheit selbständig wissenschaftlich Arbeitender und die Vielheit selbständiger Arbeitszentren eine besondere Chance für die Erkenntnis, für den Fortschritt und für die Verbreitung des Wissens.

Wissenschaft ist Wahrheitssuche, getragen von Selbstkritik und gegenseitiger Kritik. Nur die dauernde kritische Überprüfung kann zur Annäherung an die Wahrheit führen. Kritisches Denken und selbständiges Handeln ist schon Sache der Studenten.

Hören Sie nicht auf mit dem Fragen!, rief einmal der deutsche Publizistikprofessor Harry Pross die Studenten auf. Der Student darf sich durch nichts und durch niemanden vom eigenen Denken abbringen lassen, er muß alle Meinungen prüfen, auch die, die ihn befriedigen, er darf sich nichts zu rasch ausreden, nichts zu rasch einreden lassen; er darf nicht das Urteil anderer abwarten, um zu wissen, wie die Dinge „wirklich“ sind. Die Würde eines jeden Menschen verbietet es, ihn in Frage zu stellen. Sie gebietet aber, vor allem im Bereich der Wissenschaft, jedem Fragen zu stellen und nicht aufzuhören mit dem Fragen.

Unser Wissen ist vorläufig und fehlbar und aus diesem Grund kann niemand für sich in Anspruch nehmen, daß er die Wahrheit hat. Es gibt nicht einen einzigen „richtigen“ Weg zur Wahrheit und es gibt nicht einen einzigen „richtigen“ Weg, Erfahrungen zu machen.

Das „Irren ist menschlich“ zwingt uns dazu, unsere Gedanken und Meinungen der Diskussion, der Kritik und der Korrektur auszusetzen. Wir sollen für das eintreten, was wir als richtig erkannt zu haben meinen. Aber wir dürfen es nicht für das absolut Richtige halten. Toleranz beruht auch auf der Einsicht in die eigene

Fehlbarkeit, in die eigenen Schwächen, aus dem Zweifel am eigenen Wissen, aus der Bereitschaft zu lernen. Unsere Universitäten und unsere Demokratie können nur in dieser Haltung der Toleranz lebendig bleiben.

Der Lernbetrieb ist dem Menschen angeboren. Lernen ist sein Lebenszweck. Wer sein Studium aus Liebe zum Fach, aus Hingabe an eine Aufgabe gewählt hat, tut sich weniger schwer. Begeisterung macht es dem Geist leichter. Man muß aber auch lernen lernen. Informieren Sie sich darüber, „wie man’s macht“. Verschaffen Sie sich einen Gesamtüberblick über Ihr Studium und seine Stoffgebiete. Beschaffen Sie sich dann bis ins einzelne gehende Informationen über den jeweiligen Studienabschnitt und seine Fächer, über Lehrer, Prüfer, Prüfungsfragen, Schwierigkeiten.

Erforschen und trainieren Sie Ihr Gedächtnis. Der Geist wird durch Übung geschärft. Wiederholen Sie öfters kleinere Partien. Üben Sie das Gelesene und Gelernte in Diskussionen. Bleiben Sie beim Lernen nicht allein, sondern suchen Sie das Gespräch, den Dialog, die Diskussion.

Wissenschaft als Wahrheitssuche soll solidarisieren. Suchen Sie das Gespräch mit den Kollegen, mit den Professoren, mit den Assistenten. Die unmittelbare menschliche Begegnung ist leider selten geworden.. Nehmen Sie mindestens die Gelegenheit zu spontaner Mitarbeit und Diskussion in Lehrveranstaltungen wahr. Aber auch darüber hinaus müssen Lehrer und Studenten immer wieder versuchen, Zeit und Raum für den menschlichen Kontakt frei zu haben.

Das wichtigste im Studium ist die Selbsterziehung zur Zeiteinteilung und zum kritischen Geist, der über das eigene Fach hinaus auf das Ganze blickt. Zur Überwindung einer sinnentleerten Spezialisierung gehört auch das Sammeln von Erfahrungen in möglichst vielen Richtungen, um die eigenen Fähigkeiten kennen und entfalten zu lernen. Das heißt auch leben lernen. Auch das ist schwer geworden.

Das moderne Leben bestimmt die Menschen intensiver denn je von außen, es hemmt schon das Kind, seine Phantasie, seine Originalität, seine eigenen schöpferischen Kräfte zu entfalten. Wie wird, wie kann es später seiner Arbeit, seiner Freizeit, seinem Leben einen persönlichen Sinn geben? Der Kampf um die Erhaltung des einzelnen Menschen, der Kampf um die Individualität, um die Personalität - er ist unsere ureigenste Sache. Gerade weil wir heute keinen naiven Fortschrittsglauben mehr haben, sollten wir uns anstrengen, Selbständigkeit und innere Befriedigung und damit die Chance der Solidarität mit den anderen Menschen so lange zu erhalten, wie es möglich ist.

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