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Ein zweites Locarno?

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Die Ergebnisse der jüngst zu Ende gegangenen NATO-Rats- tagung in Lissabon und die bisher deutlich gewordene Reaktion des Ostens, vor allem in der Berlin-Frage, lassen das Konzept (und dessen Verwirklichung) einer Konferenz über die Sicherheit Europas, das in den vergangenen Jahren einen führenden Platz auf der Tagesordnung der Weltpolitik einnahm, erneut in den Mittelpunkt des Interesses rücken. Diese Umstände berechtigen und veranlassen zu einer Besinnung auf die politischen und juristischen Grundlagen einer solchen Konferenz, wobei insbesondere für Österreich die Frage gestellt werden muß, inwieweit der neutrale Staat auf Grund seiner besonderen Stellung in der Völkerrechtsgemeinschaft hier seine ihm eigenen, gewissermaßen privilegierten Funktionen in der Herbeiführung eines solchen spezißsch europäischen Sicherheitssystems zu erfüllen vermag.

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Die Ergebnisse der jüngst zu Ende gegangenen NATO-Rats- tagung in Lissabon und die bisher deutlich gewordene Reaktion des Ostens, vor allem in der Berlin-Frage, lassen das Konzept (und dessen Verwirklichung) einer Konferenz über die Sicherheit Europas, das in den vergangenen Jahren einen führenden Platz auf der Tagesordnung der Weltpolitik einnahm, erneut in den Mittelpunkt des Interesses rücken. Diese Umstände berechtigen und veranlassen zu einer Besinnung auf die politischen und juristischen Grundlagen einer solchen Konferenz, wobei insbesondere für Österreich die Frage gestellt werden muß, inwieweit der neutrale Staat auf Grund seiner besonderen Stellung in der Völkerrechtsgemeinschaft hier seine ihm eigenen, gewissermaßen privilegierten Funktionen in der Herbeiführung eines solchen spezißsch europäischen Sicherheitssystems zu erfüllen vermag.

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Weder das Konzept eines gesamteuropäischen, auf völkerrechtlichem Vertrag beruhenden Systems der Sicherheit, noch der hierzu notwendige Weg über eine Staatenkonferenz sind Erscheinungen, die erst in den letzten Jahren auf getaucht sind. So findet man bereits in Artikel 11 des am Vorabend des österreichischen Staatsvertrages abgeschlossenen Warschauer Pakts wörtlich die Bestimmung, daß „… im Falle der Schaffung eines Systems der kollektiven Sicherheit in Europa und des Abschlusses eines diesem Ziel dienenden gesamteuropäischen Vertrages über kollektive Sicherheit, den die vertragschließenden Seiten unentwegt anstreben werden, dieser Vertrag (i. e. der Warschauer Pakt) am Tage des Inkrafttretens des gesamteuropäischen Vertrages seine Gültigkeit verliert.“

Zum einen ist es das traditionelle (hier organisierte) Allianzsystem, gerichtet gegen einen Angiff von außen. Als solches stellen sich die heutigen-regionalen Verteidigungsorganisationen der NATO, des gegenständlichen Warschauer Pakts, des ANZUS-Pakts, der SEATO usw. dar. Zum anderen das System der kollektiven Sicherheit, das nicht wie das Allianzkonzept extro vertiert, sondern gegen potentielle Angriffe seitens der Mitglieder der Vertragsgemeinschaft gerichtet, somit introvertiert ist. Im Warschauer Pakt wird letzterem System insofeme der Vorzug gegeben, als durch die genannte Bestimmung das Bestehen des Allianzsystems von der Errichtung eines Systems der kollektiven Sicherheit auflösend bedingt ist.

Ein solches System kann entweder auf Universalität gerichtet sein, oder sich auf die Gewährleistung der Sicherheit einer bestimmten Region beschränken. Die ehemalige Völkerbundsatzung und heute die Satzung der Vereinten Nationen sind Versuche zur Errichtung eines weltweiten kollektiven Sicherheitssystems, während beispielsweise der lateinamerikanische Rio-Pakt, der Pakt der Arabischen Liga oder der geplante Europäische Sicherheitsvertrag die juristischen Grundlagen für ein regionales Sicherheitssystem bilden.

Der Status quo

Der Hauptvertrag des aus fünf Instrumenten bestehenden Locarno- Paktes vom 16. Oktober 1925 verpflichtet — unter Garantie der Großmächte Italien und Großbritannien — die ehemaligen Kriegsgegner Belgien, Frankreich und das Deutsche Reich zu einer Anerkennung der im Versailler Vertrag festgelegten Grenzen, zu einem Nichtangriffspakt und zu gegenseitigem Beistand im Falle der Verletzung dieses Paktes durch einen der vertragschließenden Teile. Das System der kollektiven Sicherheit zur Befriedung eines räumlich abgegrenzten Teiles in Europa wurde damit verwirklicht und stellt, auf Gesamteuropa ausgedehnt, somit ein echtes Vorbild für die geplante Konferenz dar. Durch diese/i Vertrag wurde weiters der status quo in Hinblick auf die Ergebnisse des ersten Weltkrieges, betreffend die Grenzen des Deutschen Reiches mit den Nachbarstaaten Belgien und Frankreich, ausdrücklich anerkannt,

Betrachtet man heute die Forderung des Ostblocks auf Teilnahme der DDR an der geplanten Sicherheitskonferenz, auf Herstellung gleichberechtigter Beziehungen zwischen diesem und anderen Staaten, wodurch letztlich ebenso die formelle Anerkennung des Status quo, als das Ergebnis des zweiten Weltkrieges, herbeigeführt werden sollte, so wird die Parallele zu Locarno besonders offenkundig.

Trotz dieser auffallenden Ähnlichkeiten in materieller und formeller Hinsicht kann Locarno jedoch nur bedingt als politischer und juristischer Präzedenzfall für die geplante Sicherheitskonferenz herangezogen werden. Vor allem vermag die gegenwärtige allgemeine politische Situation in Europa, die durch ein Mi- minum an Verkehrs- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen den ost- und westeuropäischen Staaten und dem Fehlen jedweder Interdependenz charakterisiert ist, kaum mit jener der Nachkriegszeit des ersten Weltkrieges verglichen werden. Die Bemühunge der Proponenten einer Sicherheitskonferenz, auch im Bereich der internationalen europäischen Zusammenarbeit entscheidende Fortschritte zu erzielen, bestimmen a priori den Charakter dieser Konferenz, der über die Einigung über lakonische Gewalt Verbots- und Gewaltsverzichtsklauseln — und damit über Locarno — hinausgehen und auf die Schaffung einer neuen Basis der internationalen Beziehungen der Staaten Europas gerichtet sein will. Somit ist in der Tat der Ausdrude „Europäische Sicherheitskonferenz“ zumindest ungenau, als nicht nur die Ergänzung des bestehenden oder Errichtung eines neuen Sicherheitssystems in Europa Gegenstand einer solchen Konferenz sein wird, sondern als auch Fragen internationaler europäischer Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem, wissenschaftlich-technischem und kulturellem Gebiet auf der Tagesordnung stehen werden.

Nur Ostblock-Initiative?

Die Motive des auffallend starken Engagements der Ostblockländer, das im eingangs genannten Artikel 11 des Warschauer Pakts 1955 seinen juristischen Niederschlag gefunden hat, in Richtung der Abhaltung einer solchen Konferenz, sind Gegenstand mannigfaltiger Spekulation. Die Legalisierung und Versteinerung der Status quo in Hinblick auf die DDR und die nach 1945 gezogenen Grenzen in Europa stellen hiebei gewiß einen maßgeblich bestimmenden Faktor dar. Darüberhinaus würde eine solche Konferenz der Sowjetunion nicht nur eine Konsolidierung ihrer Position in Osteuropa, sondern auch damit eine geeignete Plattform bieten, für Gesamteuropa zu sprechen und auf diese Weise in diesem Bereich eine führende Rolle einzunehmen. Die mit einer möglichen Zersplitterung der NATO-

Partner (siehe Frankreich) verbundene Verringerung des US-Ein- flusses, sowie der propagandistische Effekt einer solchen Konferenz, der durch a priori bewußt für den Westen nicht akzeptable Vorschläge noch verstärkt werden würde, können sicherlich ebenfalls als Motive für die sowjetische Initiative herangezogen werden.

Diese Umstände führten zu einer eher vorsichtigen Aufnahme des Konzepts durch den Westen, der die Ernsthaftigkeit der Vorschläge durch die Junktimierung mit der Berlin- Frage testete und darüberhinaus 1968 die gegenseitige und ausgewogene Truppenreduzierung (mutual and balanced forces reduction — MBFR) ins Spiel brachte. Mit dem sogenannten Signal von Tiflis und den jüngsten Erklärungen der Sowjetspitze, welche die Truppenreduzierungen nunmehr als eigene Idee deklarierten, scheint der Osten auch hier positiv reagiert zu haben.

Was aber der Westen durch eine Konferenz über die europäische Sicherheit gewinnen kann, bleibt als zentrale Frage bestehen. Die Ersetzung des gegenwärtigen Bündnissystems in Europa, wie es der Warschauer Pakt vor Augen hat, beziehungsweise dessen Ergänzung durch den Aufsatz eines kollektiven Sicherheitssystems wäre von der juristischen Seite her theoretisch unschwer durchführbar. Neben der Errichtung von kollektiven Sicherheitsorganen, deren Funktion unter Umständen von bereits bestehenden, zum Beispiel der UNO, übernommen werden könnte, bedürfte es hier lediglich der Erweiterung des Casus foederis und der Beistandspflicht auch gegenüber Mitgliedstaaten des „anderen Lagers“. In der internationalen politischen Realität besitzt jedoch ein solches Konzept nur geringe Verwirklichungsaussichten. Abgesehen davon, daß dieses höchst anspruchsvolle und eine weitgehende militärische Integration der Mitglieder erfordernde System im Völkerbund, im Locarno-Pakt und nicht zuletzt in der UNO-Satzung nicht die darein gesetzten Erwartungen erfüllt hatte, würde es in seiner vorbehaltslosen Form in Fällen wie Ungarn 1956 und der CSSR 1968 gegen die Ostblockstaaten operieren, eine Wirkung, die im gegenwärtigen System der Bündnisse juristisch ausgeschlossen ist. In der Tat scheint die Praxis des Ostblocks diesem Umstand nunmehr Rechnung zu tragen: wohl spricht noch die Prager Außenministererklärung derWarschauer-Pakt- Staaten 1969 vage von einer Sicherheit „auf kollektiver Grundlage“, doch ist in den folgenden Kommuniques und Erklärungen dieser Ausdruck nicht mehr zu finden. Allgemeine Formulierungen, wie „Gewährleistung der europäischen Sicherheit“, „Gewaltverbot“, „Gewaltverzicht“ usw. werden ohne Hinweis auf das kollektive Element gebraucht. Für Österreich, sowie für die anderen dauernd Neutralen Europas ist dieser Umstand beachtenswert, denn in der Verwirklichung eines echten Systems kollektiver Sicherheit wäre für diese Staaten ohne Änderung ihrer internationalen Rechtsstellung kein Platz.

Aus diesen Überlegungen darf jedoch keineswegs der Schluß auf die Entbehrlichkeit der gegenständlichen Konferenz gezogen werden. Abgesehen von der allgemeinen Bedeutung einer MBFR, sowie einer Berlin-Regelung für die Entspannung und Sicherheit Europas, bestünde hier erstmals die Gelegenheit, die ersten Schritte für eine echte multilaterale Zusammenarbeit der europäisch«» Staatei zu setzen und damit, auf weite Sicht gesehen, jene positiven Voraussetzungen zu schaffen, die eine Entstehung von Krisensituationen verhindern beziehungsweise erschweren.

Daher scheint ja auch der Schwerpunkt der geplanten Konferenz weniger auf der „Sicherheit“ im engen technischen Sinn, sondern in dem damit zu bewirkenden Anstoß zur Zusammenarbeit zu liegen.

Der Standort der Neutralen

Nach diesen grundsätzlichen Überlegungen stellt sich die Frage, ob und inwieweit der dauernd neutrale Staat berechtigt oder sogar verpflichtet ist, am Zustandekommen und an der Arbeit einer solchen Konferenz mitzuwirken. Zu diesem Problem nehmen die östlichen Proponenten eine eindeutige Haltung eiq.

Zunächst wurde im Zuge und im Gefolge des XXIII. Parteitags der KPdSU im Jahre 1966 neuerlich die Schaffung eines „neutralen Gürtels“ ventiliert, der nach sowjetischer Ansicht auf Initiative der skandinavischen Staaten entstehen und neben diesen auch Jugoslawien und Österreich umfassen sollte; in Hinblick auf dessen potentielle Attraktion auf andere osteuropäische Staaten, wie zum Beispiel Rumänien, wurde begreiflicherweise dieses Konzept sehr bald aufgegeben, wobei allerdings die Appelle an die Neutralen zur Ergreifung der Initiative in der Einberufung einer Sicherheitskonferenz bestehen blieben und auch ständig wiederholt wurden. Ein Erfolg stellte sich bekanntlich dann 1969 ein, als Finnland sich bereit erklärte, die Rolle des Gastgebers sowohl der Sicherheitskonferenz, als auch eine* Vorbereitungstreffens zu übernehmen, „wenn die erforderlichen Bedingungen geschaffen sind“.

Seit 1966 findet sich in den einzelnen Erklärungen, Memoranden und Kommuniques der Warschauer- Pakt-Staaten die entweder direkt oder indirekt formulierte Aufforderung an die Neutralen, in einer künftigen Sicherheitskonferenz, wie erwähnt, die Initiative zu ergreifen. Diese Haltung wird aus der sowjetischen Doktrin über die dauernde Neutralität verständlich. Nach der sowjetischen Volksrechtsauffassung ist der dauernd neutrale Staat “verpflichtet“, aktiv am „edlen Kampf der Völker um den Frieden teilzunehmen“ (Ganjuškin), worunter offensichtlich auch die Initiative zum Zustandekommen und die Teilnahme an einer europäischen Sicherheitskonferenz verstanden wird. Eine solche Rechtspflicht zum aktiven Verhalten des Neutralen ist in dieser allgemeinen Form im Völkerrecht jedoch nicht nachweisbar. Der dauernd neutrale Staat hat — als Vorwirkung im Frieden — lediglich die Pflicht zur Herstellung der Voraussetzungen für die Aufrechterhaltung seiner Neutralität in einem künftigen Krieg, die im Rahmen der sogenannten Neutralitätspolitik zu erfüllen ist. Eine Rechtspfticht zur Einberufung und Mitwirkung an einer Konferenz über die Sicherheit Europas würde somit nur dann vorliegen, wenn in diesem Fall das Untätigbleiben des dauernd Neutralen dessen neutralen Haltung bei Eintritt des Neutralitätsfalles als zweifelhaft erscheinen ließe.

Das Fehlen einer diesbezüglichen Rechtspflicht hindert jedoch keineswegs den dauernd neutralen Staat, in diesem Bereich dennoch aktiv zu werden; ja sein besonderer Status befähigt ihn besonders, als ausgleichender Faktor zwischen den beiden Blöcken zu wirken und spezifische Funktionen in der Staatengemeinschaft zu erfüllen. Angewandt auf eine Konferenz über europäische Sicherheit, bedeutet dies vor allem die Schaffung der sachlichen und organisatorischen Voraussetzungen für die Abhaltung der Konferenz, wofür Locarno in diesem Punkt als Beispiel heranzuziehen ist. Darüberhinaus sollen — zum Unterschied von Locarno — auch die Neutralen selbst an der Konferenz teilnehmen.

Österreichs Vorschläge

Nachdem Finnland, wie erwähnt, 1969 die erste Initiative in Richtung einer Abhaltung der Konferenz in Helsinki ergriffen hatte, folgte Österreich ein Jahr später durch ein den interessierten Staaten notifiziertes Memorandum vom 15. Juli 1970, welches im wesentlichen folgende drei Punkte enthielt:

1. Die erneute positive Beurteilung des finnischen Schrittes und die Betonung der Notwendigkeit und Nützlichkeit der Abhaltung einer oder mehrerer diesbezüglicher Konferenzen für eine Entspannung, Zusammenarbeit und Sicherheit Europas;

2. den Vorschlag, die Erörterung der Frage einer gegenseitigen und ausgewogenen Verminderung des Militärpotentials (MBFR) als dritten Punkt — neben Sicherheit und Zusammenarbeit — auf die Tagesordnung einer zukünftigen Konferenz zu setzen, wobei sich nach österreichischer Ansicht der Abbau der Streitkräfte nicht ausschließlich auf die in Territorien der europäischen Staaten stationierten ausländischen Truppen beschränkt werden, sondern jedwede, also auch inländische Truppenkörper umfassen sollte;

3. die ausdrückliche Bereitschaft, an diesbezüglichen bi- oder multilateralen Gesprächen teilzunehmen, wobei als Träger solcher vorbereitender Gespräche den Experten gegenüber den — wie es bisher üblich war — in Helsinki akkredidierten Vertretern der Vorzug gegeben wird; für den Fall allgemeiner Zustimmung wird schließlich Wien als Tagungsort für solche vorbereitende Gespräche der Experten vor- geschlagen.

In ihrer Gesamtheit stellt die sich in diesem Dokument manifestierende Haltung Österreichs eine echte Initiative dar und ist Beweis für eine selbstbewußte, aktive und eigenständige Neutralitätspolitik. Die Richtigkeit betreffend die MBFR wurde nicht zuletzt durch das Signal von Tiflis und die in der Folge ergangenen jüngsten Erklärungen der Sowjetunion bestätigt. Die Erarbeitung einer realistischen Tagesordnung wird schließlich einen bestimmenden Faktor für die Erfolgsaussichten einer Konferenz über die Europäische Sicherheit bilden, die vielleicht der erste Schritt sein wird, den derzeit unnatürlichen Zustand der Teilung des Kernstücks der Alten Welt zu beseitigen. Und in dieser Aufgabe hat der neutrale Staat seinen berechtigten Platz.

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