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Eine Art von Lotto

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Mit einem Staatsvertrag, den die zehn Ministerpräsidenten der Länder der Bundesrepublik in Stuttgart unterzeichneten, soll das größte Problem des bundesdeutschen Hochschulwesens besser geregelt werden: die Zulassung zum Studium bestimmter Fächer, die durch einen ständig schärfer werdenden Numerus clausus für viele Maturanten immer schwieriger wird, soll durch diese Regelung einheitlicher und vor allem gerechter werden. Anlaß dafür war das Urteil des Karlsruher Bundesverfassungsgerichts, das bestimmte, daß die Zulassung oder Ablehnung eines Studienbewerbers nicht „undifferenziert von der Gesamtdurchschnittsnote“ des Matua-a-zeugnisses abhängen darf.

Außerdem mehrten sich die Klagen der Studienbewerber, daß etwa unter den 13.000, die sich im vergangenen Jahr um Zulassung zum Studium der Medizin beworben hatten und abgewiesen wurden, sicher teilweise qualifiziertere waren, als unter den mehr als 3000, die einen Studienplatz erhielten. Denn abgesehen von der zweifelhaften Relevanz einer Note in Religion oder Turnen für die Befähigung zum Medizinstudium — und diese Fächer wurden für die Berechnung der Durchschnittsnote ebenfalls herangezogen — macht sich auch ein Notengefälle zwischen den einzelnen Bundesländern bemerkbar. Gute Noten in Hessen gelten als „nachgeworfen“ und in Nordrhein-Westfalen als „schwer erkämpft“.

Vor allem durch das Gerichtsurteil aufgeschreckt regelten die Chefs der Bundesländer, was bei intakter und voll handlungsfähiger Regierung besser ein Bundesgesetz getan hätte. In einer „Zentrale für die Vergabe von Studienplätzen“ sollen in Zukunft alle Studienanträge bearbeitet werden. 60 Prozent der Plätze in Fächern, in denen Zulassungsbeschränkungen gelten, sollen auch weiter nach dem Durchschnitt der Maturanoten vergeben werden. 40 Prozent werden nach der Zeitdauer, die seit dem Erwerb der Svergangen ist, vergeben werden. Gute Maturazeugnisse und ein gutes Sitzfleisch, das einen langsam auf der „Warteliste“ nach vorne rücken läßt, bleiben also die Hauptkriterien, um in der Bundesrepublik etwa Medizin, Zahnheilkunde, Tiermedizin, Architektur

oder Pharmazie studieren zu können. Fächer, in denen jetzt rund 70 Prozent der Bewerber abgewiesen werden. Um die Unterschiede in der Benotung zwischen den einzelnen Bundesländern auszugleichen, soll der Notendurchschnitt in den Ländern statistisch ermittelt werden. Studienbewerbern aus Ländern mit allgemein guten Noten wird ein „Malus“ aufs Zeugnis verrechnet, solche aus Ländern mit allgemein schlechten Noten erhalten einen „Bonus“ gutgeschrieben. Um soziale Härtefälle zu berücksichtigen, werden vorab 15 Prozent der Studienplätze für diese Bewerber . Acht Prozent werden von vornherein für Ausländer offengehalten. In Zukunft sollen auch die für das Studienfach relevanten Fächer — also etwa Chemie, Physik und Biologie für Mediziner — stärker berücksichtigt werden.

Diese Regelung mußte sich heftige Kritik gefallen lassen, weil sie nach wie vor am Maturazeugnis als Leistungskriterium festhält. Dies aber widerspricht, so die Kritiker, etwa der Erkenntnis, daß Schüler mit sehr guten Allgemeinleistungen in der Schule auf der Universität in einem Spezialfach keineswegs „Leuchten“ sein müssen. Für Medizin etwa bedeutet es, daß Studenten mit guten theoretischen Begabungen, die sich in guten Physik-, Chemie- und Biologienoten niederschlagen, oft wenig Talent und Lust für die Praxis beweisen. Der ohnedies bereits vorhandene Ärztemangel auf dem Land wird dann nur noch größer.

Man hatte deshalb erwartet, daß eine Neuregelung der Studienzulassung ein Los-Element enthalten würde. Die Vorstellungen reichten von der Einführung einer Zufallszahl, die dem Notendurchschnitt zu addieren wäre, bis zu einer richtigen Auslosung der Studienplätze. Diese Lösung — mit dem jetzt allein geltenden Leistungsgedanken kombiniert — wäre sicher gerechter gewesen, hätte jedoch zu offensichtlich die Unhaltbarkeit des jetzigen Nume-rus-clausus-Systems erwiesen. Deshalb verzichteten die Ministerpräsidenten darauf.

Eine andere Lösung wäre noch, die Berechtigung zum Hochschulstudium nicht mehr mit der Matura zu koppeln. Diese bereits' oft ventilierte Idee baute unlängst erst wieder die FDPnBildungsexpertin Hildegard Hamm-Brücher in ihren Bildungsplan ein. Dagegen sträuben sich nicht nur die Gymnasial^Lehrer, da sie dadurch ihr Wirken und die von ihnen geprüfte Matura schlagartig entwertet sehen würden. Auch die

Universitäten wollen sich nicht unbedingt mit Vor-Semestern und Aufnahmeprüfungen belasten. Gerade sie aber sehen ständig, wie viele Studienplätze durch Studenten blok-kiert werden, die später doch abspringen.

Der Staatsvertrag über die Studienzulassung ist vorerst nur auf fünf Jahre abgeschlossen. Angesichts seiner Ungerechtigkeit wird gehofft, daß er spätestens zu diesem Zeitpunkt geändert wird. Daß der Numerus clausus bis dahin nicht schwindet, weiß man. Für 1976 etwa wird mit rund 686.000 Studienplätzen gerechnet. Ihnen werden mindestens 745.000 Studenten gegenüberstehen. Abgesehen davon, daß, selbst um dieses Verhältnis zu erreichen, noch 240.000 Studienplätze geschaffen werden müssen und auch dann eine Überbelegung der Hochschulen in Kauf genommen wird, bedeutet das keinen Abschied vom Numerus clausus. Der Bildungsbericht der sozial-liberalen Koalition hatte bereits 1970 festgestellt, daß

auch in Jahren, bei einer Aufwendung von mehr als 7 Millionen D-Mark pro Jahr für den Hochschulbau, „nicht jeder Studienbewerber zu jeder Zeit und an jedem Ort das von ihm gewählte Fach studieren kann“.

Auf Jahre hinaus werden sich also Maturanten, die Arzt werden wollen, dazu entschließen müssen, Physik, Mathematik oder Chemie zu studieren, wenn sie nicht gleich auf ein ganz anderes Fach ausweichen. Selbst die Zahl der Fächer ohne Zulassungsbeschränkung wird immer kleiner. Hamburg mußte bereits für evangelische Theologie den Numerus clausus einführen. In den nächsten Jahren wird die Frage sein, ob neben der Ziehung der Lottozahlen auch eine der Studienplätze kommt oder ob es weiter dabei bleibt, daß ein guter Turner eher Medizin studieren kann als ein schlechter, was in der jetzigen Regelung befremdlicherweise als gerechter und dem Leistungsgedanken angemessener empfunden wird.

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