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Eine ausgehöhlte Verfahrensruine ?

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Kritik am Parlamentarismus ist nicht neu. Aber daß etwas im Verhältnis zwischen Abgeordneten und Bürgern nicht mehr stimmt, wird heute immer deutlicher.

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Kritik am Parlamentarismus ist nicht neu. Aber daß etwas im Verhältnis zwischen Abgeordneten und Bürgern nicht mehr stimmt, wird heute immer deutlicher.

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Die Mängel der parteienstaat- lich-parlamentarischen Willensund Entscheidungsbildung sind nicht derart, daß sie durch Korrekturen am Rande zu beheben wären. Die üblichen Vorschläge der langen wellenreichen Debatte zur Reform des Parlaments (und der Parteien) mögen im einzelnen beachtenswert sein. Sie bieten aber keine Abhilfe im Hinblick auf die systematischen Schwächen.

Die Mängel parlamentarischen Verfahrens betreffen die Willensund Entscheidungsbildung durch Parlament und vorgängig durch die Parteien im Kern.

• Die Zahl der parlamentarisch anstehenden Entscheidungen hat so zugenommen, ihr Wirkungs-

grad ist so gewachsen, daß die Arbeitsfähigkeit des Parlaments und seine Legitimation zugleich in Frage stehen.

Die Aufhebbarkeit parlamentarischer, mehrheitlich getroffener Entscheidungen war schon immer auch ideologisch. Das Gewicht aktuell getroffener Entscheidungen wurde verschleiert und verharmlost. Als könne nach vier Jahren wieder alles umgestoßen werden (sofern neue Mehrheiten ans Ruder kommen). Als könne man, in der Minderheit befindlich, vier Jahre gleichsam mit angehaltener Luft leben. Als würden noch so punktuelle Entscheidungen etwa bildungspolitischer oder sozialpolitischer Art nicht die Lebenschancen von Millionen Menschen auf die Dauer beeinflussen.

Die langfristige, nicht mehr aufhebbare und existentielle Wirkung mehrheitlicher Entscheidungen raubt diesen die liberal-demokratische Legitimität. Oder anders gesagt: eine beträchtliche Anzahl von Entschei düngen sind mit dem Mechanismus der Mehrheitsentscheidung durch Repräsentanten legitimerweise nicht zu fällen.

Die repräsentativen Einrichtungen kommen aber nicht allein dieser Entscheidungsqualitäten, ihrer Vorbedingungen und Folgen halber unter Druck. Die schiere Quantität der Entscheidungen, ihre Reichweite und Detailliert- heit lassen dem Parlament keine Zeit dazu, Atem zu schöpfen.

Der Konventionalismus der Entscheidungen bzw. ihrer Bestimmung von außen sind immer schon garantiert. Denn die Fähigkeit, neue Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten, ist jenseits subjektiver Fähigkeiten äußerst gering.

• Man kann von einer politischen Entfremdung und Enteignung des Parlaments reden. Bürokratisch nationale (etatistische) und bürokratisch-ökonomisch internationale Einrichtungen (Weltmarkt) setzen das Parlament als formell oberstes Organ liberal-demokra tischer Gesellschaft schachmatt.

Die Kontrolleistung des Parlaments ist traditionell eher gering. Das Kontrollversagen des Parlaments äußert sich gerade in seinem ureigensten Beffeich. Dem der Normdefinition nämlich. Das Parlament wird hier nicht nur bürokratisch-professionell „übermannt”, es muß auch angesichts der Eigenart der Regelungskomplexe einen Gutteil seiner Bestimmungskapazität mit dem Mittel der „Herrschaft des Gesetzes” an ausführende Bürokratie und an die Judikative als einer im Einzelfall oft wichtigeren Rechtsschöpfungsinstanz abgeben.

Nun rächen sich die mehrfachen Abstraktionen des Parlaments. Seine Abstraktheit gegenüber dem Bürger macht es politisch blutlos. Das Parlament repräsentiert zwar Interessen, aber es vermag keine solchen zu mobilisieren, gar neue aufzunehmen.

Die Separation des politischparlamentarischen Systems aber vor allem von den ökonomischen

Prozessen führt angesichts der längst bürokratisierten und international organisierten Ökonomie dazu, daß parlamentarisch bestenfalls die Folgen anderer Entscheidungsverfahren bestaunt und beklagt werden können.

Auch im Hinblick auf die Diskussions- und Öffentlichkeitsleistung müssen die Repräsentationsorgane versagen. Im Zusammenspiel mit Exekutive und Bürokratie werden diese Funktionen von den Medien übernommen. Und zwar gerade auf dem ureigenen Gebiet parlamentarischer Institution, der Interpretation und der Veröffentlichung von Interessen, ihren Konflikten.

Das Parlament wird in seinen Äußerungen bestenfalls zum Medienereignis, zum Ereignis geliehener Stärke.

• Das Parlament war immer schon nur dem Scheine nach souverän. Selbst zu seinen liberalen Hochzeiten.

Die parlamentarische Demokratie galt immer schon unter dem Vorbehalt bzw. dem Schutz-

schirm des staatlichen Gewaltmonopols. Die Bedeutung dieses staatlichen Gewaltmonopols, das auch dem Parlament gegenüber prinzipiell unaufhebbar und hermetisch blieb, läßt sich gerade im parlamentarischen Kernbereich, der Gesetzesdefinition belegen. Parlamentarisches Gesetz galt immer nur solange und soweit, wie der Apparat der Gesetzesdurchsetzung seine soziale Wirkung gewährleistete.

• Parlament und Parteien werden dadurch zusätzlich geschwächt, daß der die Repräsentation konstituierende Akt, die Wahl als Legitimationsmechanismus versagt.

„Symbolische Politik”

Der Wahlmechanismus, die im Wahlakt beteiligten Faktoren werden wie die repräsentativen Institutionen als gegeben vorausgesetzt. Meinungsbefragung und Wählerforschung verstärken den Charakter der Wahlen als eines Ausdrucks der „symbolischen Politik”. Wenn die im Wahl- und Repräsentationsvorgang institutionalisierte Verachtung des „einfachen Volkes” heute zu einem besonderen Problem wird, dann sind die Ursachen hierfür in der beobachteten Zunahme politischer Aufgaben im weitesten Sinn zu sehen, die die repräsentativen Einrichtungen in ihrer herkömmlichen Form in keiner Weise mehr zu erfüllen vermögen.

Diese und andere systematische Einwände im Hinblick auf die repräsentative und die politisch normative Qualität des Parlaments machen deutlich, daß die liberal-demokratische Qualität des Parlamentarismus insgesamt, nüchtern betrachtet, auf einen Restposten geschrumpft ist. Das Parlament fungiert als Legitimationsmittel anderer „Legalitäten”.

Je schwächer aber das repräsentative System der Sache nach ist, desto mehr werden die Formen der repräsentativen Mehrheitsentscheidung insbesondere von Vertretern der Exekutive absolut gesetzt. Eine Diskussion der politischen Formen soll offenkundig verhindert werden. Denn in einer solchen Diskussion müßten herrschaftlich lieb gewordene Verfahren und Ruinen von Verfahren in Zweifel gezogen werden.

Der Autor ist Professor für Theorie der Politik an der Freien Universität Berlin. Der Beitrag ist ein Auszug aus seinem Vortrag am Wiener Institut für höhere Studien.

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