6908184-1980_51_09.jpg
Digital In Arbeit

Eine belgische Reise

Werbung
Werbung
Werbung

1. Von Wien nach Brüssel braucht der Zug eine Nacht und einen halben Tag. Das ist viel. Unser in die Zukunft gerichteter Sinn hat genügend Zeit, um sich an das Land, das uns scheinbar zu gut und in Wirklichkeit kaum bekannt ist, heranzutasten. Die geniale Willkür Josephs II. hat Brüssel für Österreich 1789 verspielt. Unter Maria Theresia war die Verbindung offenbar noch le-' bendig; ein populäres Geschichtsbuch betitelt das entsprechende Kapitel: „Das Wohlergehen unter den Österreichern". Allerdings: Karl V. sah sich gezwungen, den Widerstand der Bürger in Gent 1540 mit Brachialgewalt zu brechen.

Gent liegt freilich bereits in Flandern, und auch heute hören wir vom Sprachenkampf der Flamen gegen das Französisch der Wallonen. Könnte es sein, daß der Gegensatz zwischen den Küstenbewohnern und den Menschen einer mediterranen, sich um die Idee des Heiligen Römischen Reiches kristallisierenden Kultur so alt ist und so unüberwindlich? Die Aufstände der Randgebiete haben ihre eigene, verstocktere und zugleich pathetischere Dynamik.

Am frühen Vormittag offenbart das Land um den Rhein die Dreifalt von alter deutscher Rechtschaffenheit, nicht so alter nationaler Romantik und neuer Tüchtigkeit. Die Welt der Fachwerkhäuser der künstlichen Burgruinen und der modernen Industrien bilden eine Einheit. Später, zwischen Verviers und Liege sieht man die ungeordnete Bescheidenheit ausgedehnter, aus schmalen Einfamilienhäusern bestehenden Ortschaften. Die Zentren sind nach einem anderen Muster geformt und man glaubt, immer noch zweifelnd, ein anderes architektonisches Vorbild zu erkennen. Paris?

Die Armut ist hier un-verschämter, . das Land lässiger bearbeitet, der Straßenverkehr in den Kleinstädten stiller. Aber über den Dächern erheben sich die künstlichen Berggipfel der Kathedrale, und die Menschen, die auf den Lokalzug wartend dem Ostende-Expreß nachblicken, wirken ruhiger, in sich gefestigter, souveräner. Die Bescheidenheit der Städte und die unbekümmerte Art der Menschen läßt Kraft ahnen. Könnte es sein, daß man sich bei uns, im europäischen Südosten, angesichts ununterbrochener Bedrohungen aus dem Osten veranlaßt sah, sich pompöser zu gebärden, um sich selbst die Zugehörigkeit zum glücklicheren Teil Europas zu beweisen?

2. A propos Orient-Expreß. Als Kind war er für mich ein Eisenbahnzug von geheimnisvoller Eleganz. In jedem zweiten Abteil saß ein Prinz Ypsilanti, eine walachische Lebedame oder wenigstens ein mazedonischer Verschwörer. Heute wird im Speisewagen das Frühstück in Papierbechern und auf Papiertellern auf den Tisch geschoben. Das Tablett ist aus Kunststoff. Der junge semmelblonde Kellner lächelt wehmütig. „Das ist unser Meissner Porzellan."

3. Auf dem Bahnsteig von Brüssel-Nord wartet der belgische Schriftsteller J. G. Seine Kurzgeschichten sind knapp und witzig, seine literaturhistorischen Studien bedeutsam. Sein Deutsch hat eine sanfte wienerische Färbung. Sein Vater war General der k.u.k. Armee. Er hilft liebenswürdig über die kleine Fremdheit der ersten Minuten hinweg, bietet dem Gast die Möglichkeit, mit der Hilfe vertrauter Namen - Maeterlinck, Verhaeren, Masereel - am Unbekannten anzuknüpfen: an dertiegen-wart der belgischen Kunst.

Und nun in die Stadt. Ihre eigentümliche Schönheit ergibt sich aus der Mischung zweier geistiger Modellmöglichkeiten: das Theatralische und Monumentale steht neben den kleinen, auf elementare Bedürfnisse zugeschnittenen, beinahe asketischen Proportionen. Die Unterschiedlichkeit erzeugt reizvolle optische Spannungen und erweckt das Gefühl von Reichtum: Brüssel besitzt die rauschhafte Schönheit der breiten Geste und die Innigkeit der stillen, in sich gekehrten Nachdenklichkeit. Die elefantenhafte Herrlichkeit des Justizpalastes vermittelt dieselbe Botschaft, die durch die ernste bürgerliche Gotik des Rathauses zum Ausdruck kommt.

Vielleicht darf die Botschaft dieser Stadt mit dem Satz formuliert werden: Man halte zwischen Traum und Selbstdisziplin die nüchterne Mitte, denn die Höhen eröffnen sich uns nur, nachdem wir gelernt haben, mitjden Flächen des Alltags zurechtzukommen.

4. Könnte es sein, daß sich Fleiß und Inspiration vereinen lassen? Daß die geduldige Beschäftigung mit dem Handwerk dem Wagnis des großen Wurfes und dem rauschhaften Zauber der eindringlichen Vision nicht widerspricht? Daß sich Bürgerfleiß hin und wieder in Genie verwandeln läßt?

In Brüssel ist man nahe daran, mit einem vorerst zögernden und dann halbwegs überzeugten Ja zu antworten.

5. In Gent gewinnt dieses Ja zusätzlich an Gewißheit. Die grimmige Wasserburg, von den Grafen von Flandern im 9. Jahrhundert errichtet und freilich immer wieder umgebaut und erweitert, wirkt durch die festen Bürgerhäuser wie belagert. Die Weber, Walkmüller und Tuchhändler schufen ein städtisches Gemeinwesen von großer Festigkeit. Sie vermochte noch der aus der Baumwollindustrie hervorgehenden Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts als formendes Muster zu dienen.

Auch das Ehepaar, das um das Jahr 1426 dem Maler Hubert van Eyck den Auftrag erteilte, für die Pfarrkirche Sankt Johannes einen Altar herzustellen, gehörte diesem Bürgertum an. Joos Vijd der reiche Unternehmer, war ein Mann um die fünfzig, ein blasser Mensch, sorgfältig rasiert, mit schlaffen Speckfalten an beiden Seiten des Gesichts, seine Frau Elisabeth, breiter und südländischer als ihr Mann, offenbar wHlensstark, noch während des Betens mit einem Schimmer von Verschlagenheit in den Augen, beide in Gewändern aus solidem Genter Textil - so knien sie da, zu sehen an den bemalten Eichholzplatten, die zum Verschließen des Schreins dienen.

Das von Hubert van Eyck und seinem Bruder Jan verwirklichte Bildprogramm bleibt trotz aller Erklärungsversuche geheimnisvoll. Rätselhafte, gleichwohl spürbare Wechselbeziehungen verbinden die einzelnen Darstellungen. Soll es etwas bedeuten, daß ein Strahl der Gnade gerade dem links im Vordergrund stehenden, grün gekleideten Patriarchen ins verdüsterte Gesicht fällt? Wer ist der riesenhafte Pilger der eine ihm offenbar feindlich gesinnte Schar zur Anbetung des Lammes leitet? Und was bedeutet die mit krassem Realismus dargestellte Nacktheit von Adam und Eva angesichts all der gutgekleideten Gestalten und der geradezu verfeinerten Eleganz der Gottesfigur?

Der Altar befand sich übrigens, so erfahre ich, während der Nazizeit auf österreichischem Boden: in Alt-Aussee. Ob seinerzeitige Bewacher und Betreuer noch am Leben sind?

6. Von Gent nach Brügge. „Wenn ich ausländische Gäste habe, schicke ich sie gleich nach Brügge - das wirkt immer", sagte eine Dame in Brüssel am Abend zuvor. Also ein museales Schaustück? Ich beschließe, mißtrauisch zu sein. Aber bereits am Rand des Stadtkerns, vordem Hausdes Schleusenmeisters und dann im stillen Beginenhof, in dem alte Frauen ein andächtiges, gesichertes, gutes Leben führten, wirkt der Geist des Ortes.

Hier gibt es keine Mogelei und keine Theatralik. Keine alte Kulissenherrlichkeit bietet sich verblendeten Andenkensammlern. Das Netz der grünen Wasserstraßen durchzieht eine Stadt, die sich selbst in der Würde der Einfachheit treu geblieben ist.

Man sagt, das Versanden des Zugangs zum Meereshafen im 16. Jahrhundert hat zur Erhaltung dieses Urbanen Systems und der menschlichen Proportionen der Backsteinarchitektur beigetragen. Uberschätzt man nicht die Auswirkungen der Ökonomie? Bei einer anderen, weniger rechtschaffenen Gesinnung der Bürger wäre die Stadt auch baulich untergegangen. Wir kennen zerfallene Städte, halbe Ruinen. Nur wer zwischen dem Wesentlichen und dem Bfiwerk zu unterscheiden weiß, kann den Verlust des Nebensächlichen unversehrt verkraften. Und sogar heiter: ohne die Lust am Leben zu verlieren.

7. Diese Lebenslust zeigt ihre Auswirkungen auch in der Gastronomie. Die verfeinerte Kochkunst Belgiens erreicht in Brügge, in kleinen Wirtshäusern, hinter bescheidenen Mauern, einen eigentümlichen Höhepunkt. In der Vielfalt wirkt die Vorliebe für das Echte. Die ursprünglichen Geschmäk-ker von Fisch und Fleisch werden bloß leicht hervorgehoben, nicht überdeckt.

Am Nebentisch die Männerrunde studiert lange das Angebot und bestellt dann sorgfältig, wenn auch nicht zu wortreich. Frau H. L. sagt, die Herren seien Gemeinderäte oder etwas ähnliches.

8. Frau H. L. ist Kunsthistorikerin, eine Sendbotin des vorsorglichen Schriftstellers J. G., Bewacherin des berühmten, von Hans Memling bemalten Ursulaschreins im Johannesspital. Wir verständigen uns in einer aus Französisch, Deutsch und Englisch gemischten Kunstsprache und spazieren von Hummer und Ratsherren zu Memlings Ursula.

Unser Kauderwelsch klingt in Brügge nicht befremdlich. Bis zum Niedergang der Stadt hat man sich in diesen Straßen in vielen Sprachen verständigt.

Im Kapitelsaal des Spitalbaus aus dem 12. Jahrhundert: der Katharinenaltar. Warme, herzerwärmende Farben und die Phantasiewelt eines schlichten Glaubens, dessen Innigkeit an den Zauber der Volksmärchen erinnert. Einige Schritte weiter: der berühmte Schrein, in dem ursprünglich mehr als fünfzig Reliquien aufbewahrt worden sind. Er ist überraschend klein (Länge 91, Breite 33, Höhe 87 cm). Auf den sechs Bjldflächen: die Romreise der elftausend englischen Jungfrauen und ihr Martyrium vor den Mauern von Köln, wahrscheinlich ebenfalls von Memling. Aber die Darstellungen des Schreins sind raffinierter, trotz der vielen realistischen Einzelheiten verfeinerter als die Bilder des Altars. Die beiden weiblichen Figuren auf den Giebelseiten zeigen ebenfalls das traumverlorene Ideal einer späten ritterlichen Frauenverehrung.

Und Frau H. L., klein,dunkelhaarig, vielwissend, glänzt vor Freude. Sie ist in Brügge geboren. Und wird nicht müde, ihren Memling zu bewundern.

9. Zurück nach Brüssel über die schnurgerade Autobahn. Links und rechts die Umrisse neugotischer Schlösser, dann die imposanten, silbrig schimmernden Würfel der Fabrikshallen. Was hier im 13. und 14. Jahrhundert anhob - die Vermenschlichung der Welt durch Gewerbefleiß und Technik -, scheint, trotz aller Rückfälle und Krisen bis heute fortzudauern. Das Schicksal scheint hier unauffälliger zu walten und an den Nahtstellen zwischen Berechnung und Glauben entsteht weniger Verkrampfung. Über die Ausbrüche der Sehnsucht liegt hier eine seltsame, mäßigende, lächelnde Strenge.

Man glaubt einige Augenblicke, den Geist, die Geistigkeit Europas nicht nur mit dem Verstand, sondern mit den Sinnen zu greifen: diese Süße eines an so vielen Spannungen geschulten Lebensgefühls und dieses nachtwandlerisch sichere Streben durch alle blutigen Hirngespinste auf die Mitte zu. Und man spürt auf einmal in einem Anfall von schmerzlicher Klarsicht, wie viel es ist, das man verlieren könnte.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung