Eine Bresche gegen das Leben!
Es ist ein Faktum, daß ungeachtet der bestehenden Strafbestimmungen (insbesondere § 144 ff StG) in Österreich jährlich etwa 70.000 bis 100.000 illegale Abtreibungen vorgenommen werden. Über diese zutiefst beunruhigende Situation kann nicht zur Tagesordnung übergegangen werden, sie bedarf der Abhilfe. Das Problem wird seit langem diskutiert, wobei sich die Auseinandersetzungen wegen der anhängigen Großen Strafrechtsreform bisher vor allem auf den strafrechtlichen Aspekt konzentriert habe. Am 16. November 1971 hat nunmehr die Bundesregierung den Entwurf für ein neues Strafgesetz beschlossen und als Regierungsvorlage dem Nationalrat zugeleitet.
Es ist ein Faktum, daß ungeachtet der bestehenden Strafbestimmungen (insbesondere § 144 ff StG) in Österreich jährlich etwa 70.000 bis 100.000 illegale Abtreibungen vorgenommen werden. Über diese zutiefst beunruhigende Situation kann nicht zur Tagesordnung übergegangen werden, sie bedarf der Abhilfe. Das Problem wird seit langem diskutiert, wobei sich die Auseinandersetzungen wegen der anhängigen Großen Strafrechtsreform bisher vor allem auf den strafrechtlichen Aspekt konzentriert habe. Am 16. November 1971 hat nunmehr die Bundesregierung den Entwurf für ein neues Strafgesetz beschlossen und als Regierungsvorlage dem Nationalrat zugeleitet.
Dieser Gesetzentwurf sieht eine Neufassung der Bestimmungen über die Abtreibung vor, die gegenüber der geltenden Rechtslage im wesentlichen folgende Abweichungen enthält:
• Die Höchststrafe für die Abtreibung durch die Schwangere wird von fünf Jahren auf ein Jahr, jene für Abtreibung durch andere Personen mit Einwilligung der Schwangeren von fünf auf drei Jahre, jene für gewerbsmäßige Abtreibung von zehn auf fünf Jahre herabgesetzt.
• „Bei Vorliegen von besonders berücksichtigungswürdigen Gründen“ soll weder die Schwangere noch der an der Abtreibung mitwirkende Arzt strafbar sein.
• Die medizinische Indikation soll statt iim Falle einer „gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Lebensgefahr oder Gefahr dauernden schweren Schadens an der Gesundheit“ künftig bei einer „nicht anders abwendbaren ernsten Gefahr für das Leben oder die Gesundheit“ der Schwangeren gegeben sein.
• Bei Beurteilung der Frage, ob die medizinische Indikation vorliegt, sind neben den körperlichen und seelischen Eigenschaften der Schwangeren auch die Umstände zu berücksichtigen, „unter denen sie zu leben gezwungen ist“ (soziale Komponente); „gegebenenfalls ist auch zu prüfen, ob nicht die Angst der Schwangeren, ein unheilbar sieches Kind“ (eugenische Komponente) „oder ein Kind zu gebären, das durch eine gewaltsame Schwängerung erzeugt worden ist“ (ethische Komponente) „eine ernste Gefahr für ihre seelische Gesundheit begründet“.
• Für das „Erbieten zur Abtreibung und die Ankündigung von Abtreibungsmitteln“ soll eine neue besondere Strafbestimmung geschaffen werden.
Guter Rat für „Konservative“
Die Erläuterungen zur Regierungsvorlage stellen fest, daß die Abtreibung weder gesellschaftlich erwünscht noch eine medizinisch empfehlenswerte Methode der Geburtenregelung ist und heben wiederholt hervor, daß dieses Delikt grundsätzlich weiterhin strafbar bleiben und nur die medizinische Indikation für eine straflose Tötung des werdenden Lebens anerkannt werden soll. Bei der Präsentation der Regierungsvorlage vor der Presse stellte auch der Justizminister gerade die letzteren Argumente in den Vordergrund und bezeichnete die Neufassung der Abtreibungsparagraphen sogar als konservativ, bedeutete allerdings gleichzeitig, daß im Verlauf der parlamentarischen Beratungen Forderungen nach größerer Liberalisierung nicht auszuschließen seien und „die Konservativen“ gut beraten wären, die neue Lösung zu akzeptieren („Arbeiter-Zeitung“ vom
17. November 1971). In Übereinstimmung mit diesem Hinweis führen die Erläuterungen zur Regierungsvorlage bemerkenswerterweise aus, daß es fraglich sein könnte, „ob nicht schon in der Vorlage über die Empfehlungen der Strafrechtskommission vom Jahre 1962 hinausgegangen werden sollte“, sowie, daß „im Zuge der parlamentarischen Beratungen auf die im Fluß befindliche internationale Rechtsentwicklung und die weiteren medizinischen Erkenntnisse Bedacht zu nehmen sein wird“.
Die in den Erläuterungen angeführten Grundsätze für die Neuregelung sind nur zu begrüßen. Leider läßt jedoch die Prüfung der konkreten Bestimmungen erkennen, daß diese nur formal an der Strafbarkeit der Abtreibung festhalten und als Rechtfertigungsgrund einzig die medizinische Indikation anerkennen; durch mehr oder weniger unbestimmt formulierte Ausnahmeregelungen werden die erwähnten Grundsätze so durchbrochen, daß dlie Regierungsvorlage tatsächlich eine sehr weitgehende Liberalisierung der Abtreibung bringen würde. Welche anderen Auswirkungen sollte man von der völlig unbestimmten Regelung über das Vorliegen berücksichtigungswürdiger Gründe erwarten können? Aber auch die Umschreibungen der „Komponenten“, durch die die medizinische Indikation ohne Vorsorge für eine Kontrolle erweitert werden sol, sind teils weitmaschig und teils recht problematisch. Wie soll etwa bei der „sozialen Kom ponente“ ein Arzt nichtmedizinische Sachverhalte wie die wirtschaftlichen Lebensumstände einer ihm in der Regel nicht näher bekannten Patientin so verläßlich beurteilen können, daß er gewissenhaft über das Schicksal des ungeborenen Kindes entscheiden kann?
1966 bis 1971: Warum
Meinungsänderung?
Der unter Minister Broda fertiggestellte Ministerialentwurf 1966 für ©in neues Strafgesetz hatte die Anerkennung der ethischen und eugenischen Indikation in seinen Erläuterungen noch mit der Begründung abgelehnt, daß „bei diesen Indikationen in einem sehr hohen Maße die Gefahr des Mißbrauches besteht; so rechnet man bei der ethischen Indikation mit 75 Prozent Mißbrauchsfällen“. Zur sozialen
Indikation wurde damals vom Justizministerium festgestellt, daß „ein Vorrang der wirtschaftlichen Interessen der Schwangeren und ihrer Familie, wie sie in der Zulassung einer solchen Indikation zum Ausdruck käme, gegenüber dem höherwertigen Interessenschutz des werdenden Lebens nicht anerkannt werden“ kann. Der Begriff der Indikation bezieht sich hiebei eindeutig auf die Vorschläge der Strafrechtskomis- sion des Jahres 1962, die nun in die Regierungsvorlage 1971 übernommen wurden, hier aber bloß als „Komponenten“ der medizinischen Indikation bezeichnet werden.
Die offiziellen Erläuterungen des Justiministeriums zium Ministerial- entwurf 1966 bezeugen, auf welch schwankenden Boden man sich mit der Erweiterung der medizinischen Indikation begeben würde. Sie erweisen auch, daß der Interessen- schutiz des werdenden Lebens als eines höherrangigen Wertes durch Anerkennung verschiedener „Komponenten“ minderrangigen Überlegungen geopfert wird. Gerade das ist aber das entscheidende Kriterium für die Durchlöcherung des Schutzes des ungeborenen Lebens. In Kollisionsfällen, in denen das werdende Leben jenes der Mutter bedroht, wo also zwei gleichrangige Rechtsgüter gegeneinander abzuwägen sind, kann die Entscheidung für das Leben der Mutter aus dem Titel der Güterabwägung strafrechtlich gerechtfertigt werden. Sobald jedoch die Tötung ungeborenen Lebens zugunsten minderrangiger Werte zugelassen wer den soll, ist der Grundsatz des vorrangigen Schutzes menschlichen Lebens verletzt, welche rechtliche Konstruktion immer man einer solchen Regelung gibt.
Nun gibt es Meinungen, die diesen Umstand als Schönheitsfehler in Kauf nehmen öder vielleicht sogar begrüßen, weil sie hoffen, daß durch eine solche legistische Maßnahme die gefährlichen illegalen Abtreibungen eingedämmt werden können. In der öffentlichen Diskussion wurde der beabsichtigten Freigabe der Tötung ungeborenen Lebens verschiedentlich „eine zutiefst lebensfördernde Tendenz“ zugeschrieben, weil sie der Senkung der Sterblichkeit und der Gesundlheitsschädigung bei einer großen Anzahl von Frauen diene, und die Freigabe als ein Anliegen der Menschlichkeit bezeichnet. (Derartige Erwartungen stellen im übri gen auch einen Beweis dafür dar, daß die abgeänderten Strafbestimmungen tatsächlich auf eine Liberalisierung zielen, da bei bloßer Erfassung echter Notsituationen so weitgehende Auswirkungen von vornherein nicht möglich wären.)
So bestechend und logisch die erwähnten Erwartungen wirken, so wenig halten sie jedoch bedauerlicherweise den Erfahrungen anderer Länder stand, die inzwischen ähnliche Lösungen verwirklicht haben. Wie Univ.-Prof. Dr. Husslein, der Vorstand der 2. Wiener Universitäts- Frauenklinik, im Rahmen einer Arbeitsgemeinschaft der Katholischen Sozialakademie Österreichs auf Grund statistischen Materials aus Großbritannien, Schweden, Dänemark, Japan, verschiedenen Ostblockstaaten und den USA nachge- wiesen hat, ist es ein Irrtum, zu glauben, daß es mit der Legalisierung der Abtreibung möglich ist, den außerhalb der öffentlichen Spitäler durchgeführten Abortus zu beseitigen. Weder in Japan noch in Skandinavien, England oder in den Ostblockstaaten haben sich die Erwartungen auf einen Rückgang der privat durchgeführten Abtreibungen erfüllt. Dazu kommt aber, daß sich in allen Ländern, die die Abtreibung liberalisiert haben, die Gesamtzahl der Abtreibungen enorm vermehrt hat. Schließlich zeigen Statistiken, daß auch der legale Abortus gesundheitliche Gefahren für die Mutter mit sich bringt und daß die Zahl der Todesfälle der Mütter auch nach legalen Abtreibungen höher ist als nach Geburten. („Das Abortuspro- blem“, Supplement Nr. 2 zur Wiener medizinischen Wochenschrift, November 1971.)
Kein Erfolg
Angesichts dieser Tatsachen, die in der Diskussion bisher leider viel zu wenig Beachtung fanden und auf dje auch in den Erläuterungen zur Regierungsvorlage nicht eingegangen wird, zeichnet sich folgendes Dilemma des Abtreibungsproblems ab:
• Der bestehende Übelstand der großen Zahl illegaler und unkontrollierter Abtreibungen und der damit verbundenen Übertretung des bestehenden Verbotes soll durch Liberalisierung der Strafbestimmungen wenigstens unter Kontrolle gebracht werden. Diese Maßnahme wird jedoch nach allen internationalen Erfahrungen nur zu einem rasanten Anwachsen der Abtreibungsfälle führen, ohne daß deren kontrollierte Durchführung in öffentlichen Spitälern im eihofften Ausmaß erreicht werden kann. Das heißt aber, daß der bestehende Übelstand nur noch wesentlich vergrößert würde.
• Der Preis für diese Entwicklung mit allen negativen Auswirkungen auf die Volksgesundlheit, die Geburtenentwicklung und den Altersaufbau wäre aber die schon aufgezeigte, in unserem Land erstmalige prinzipielle Durchbrechung des Schutzes menschlichen Lebens — eines auch verfassungsrechtlich verankerten Grundrechtes und damit einer der Grundlagen unserer Rechtsordnung. Eine solche Lösung würde die Bilanz des Gemeinwohls in unserem Land stark belasten; sie erscheint in einer humanen Gesellschaft, als die wir uns in Österreich verstehen, nicht vertretbar. Vor einer solchen Lösung kann nicht genug gewarnt werden.
• Das Recht auf Leben ist unteilbar. Wenn die Tötung des Kindes im Mutterleib freigegeben wird, gibt es keine rechtliche Gewähr mehr dagegen, daß nicht eines Tages auch die Tötung bereits Geborener legalisiert werden könnte, wie etwa der geistig oder körperlich Behinderten, der Gebrechlichen oder sonstiger „lebensunwerter" Mitmenschen. Zu welchen Konsequenzen die prinzipielle Mißachtung des Rechtes auf Leben führen kann, zeigt der Vorschlag zweier US-amerikanischer Wissenschaftler, Kinder zu „ratio nieren“ und Frauen, die „markenfrei schwanger“ werden, durch Gesetz ziur Abtreibung zu zwingen (Bericht in der „Arbeiter-Zeitung" vom 12. November 1971, Seite 11)- Der Staat ist verpflichtet, das Grundrecht der Menschen auf Leben ausnahmslos zu schützen. Er würde diese Verpflichtung gröblichst verletzen, falls er dieses Recht selbst in Frage stellte. In der Öffnung einer Bresche in die bisher geschlossene gesetzliche Schutzmauer um das menschliche Leben liegt die grundsätzliche Gefahr der vorgesehenen Neuregelung der Abtreibung im neuen Strafgesetz. Derartige Risken dürften selbst dann nicht eingegangen werden, wenn die in Aussicht genommene Regelung nach menschlicher Voraussicht eine Behebung der gegebenen Übelstände erwarten ließe, und um so weniger angesichts der offenbaren Aussichtslosigkeit derartiger Erwartungen.
Nicht nur das Strafrecht…
Bedeutet das, daß es keinen Ausweg aus der gegebenen Situation gibt? Das Problem der Abtreibung ist äußerst vielschichtig und geht weit über den Bereich des Straf- rechts hinaus.
Rein strafrechtliche Lösungen werden einerseits nie zur Behebung der Ursachen der Abtreibungswelle beitragen können, und anderseits nicht den unaufhebbaren Zwiespalt zwischen der Verpflichtung zum Schutz des Lebens und dem Auseinanderfallen von Gesetz und gesellschaftlicher Wirklichkeit überwinden können. Das soll nicht heißen, daß im Zuge der Großen Strafrechtsreform nicht auch die Bestimmungen über die Abtreibung in einer Weise neu gefaßt werden sollen, daß — in den vorhin aufgezeigten Grenzen, unter strikter Wahrung des Schutzes menschlichen Lebens — die Frau in einem nachweisbaren und unzumutbaren Konfliktsfall mit einer ihrer besonderen Bedrängnis entsprechenden Milde rechnen kann.
Der eigentliche Schwerpunkt zur Behebung der gegenwärtigen Situation wird aber wohl außerhalb des Strafrechts gesucht werden müssen. Hiezu wird es der konsequenten Bemühung des Staates und aller verantwortlichen Gruppen der Gesellschaft bedürfen. Für die echten Not- und Konfliktsituationen müßten sozialpolitische, Steuer- und arbeitsrechtliche Maßnahmen zur Erleichterung der Berufstätigkeit der Mütter ergriffen, einfach und rasch funktionierende Hilfeleistungen zur Übernahme der Verantwortung und Sorge für jene Kinder, die nicht bei ihren Eltern bleiben können, durch private und öffentliche Stellen angeboten, noch bestehende Diskriminierungen nicht verheirateter Mütter beseitigt und ausreichende Heimplätze für Kinder geschaffen werden. Darüber hinaus müßten eine intensive Information über verantwortete Elternschaft, eine hilfreiche Beratung für werdende Mütter geboten, familiengerechtere und erschwingliche Wohnungen geschaffen und vom Staat und gesellschaftlichen Gruppen zu einer allgemeinen Verbesserung der Einstellung zum Kind und zur Bejahung des Lebens überhaupt beigetragen werden. Dieser Weg mag mühsamer sein als der einer großzügigen Liberalisierung der Tötung Ungeborener. Das Ergebnis dieser Bemühungen aber könnte dafür eine echte und humane Lösung eines komplexen Problems sein. Daß solche Gedanken auch dem Justizministerium nicht fremd sind, zeigen die Erläuterungen zur Regierungsvorlage 1971, die ausführen: „Die Wirkungsmöglichkeiten des Strafrechts dürfen nicht überschätzt werden … Im Grundsätzlichen können die Dinge wohl nur durch Aufklärungsarbeit, soziale Maßnahmen sowie Maßnahmen der Sozialhygiene und der Volksgesundheit gesteuert werden … Alles Derartige ist wirksamer als die Mittel des Strafrechts.“ Es ist zu hoffen, daß in den nun bevorstehenden Beratungen und Verhandlungen nüchtern und ohne Prestigeüberlegungen eine für alle politischen und gesellschaftlichen Kräfte akzeptable Lösung dieses schwierigen Problems gefunden werden kann, die dem wohlverstandenen Interesse der einzelnen und der zukünftigen gesellschaftlichen Entwicklung in unserem Lande dient.