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Eine „Dritte Kirche“ für die Dritte Welt

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Die Kirche rüstet sich, in ihr drittes Jahrtausend einzutreten. Sie ist längst nicht mehr eine Kirche des Abendlandes, einer Kirche Mitteleuropas. Immer mehr verschieben sich die Gewichte in die Länder der Dritten Welt. Daran erinnert die Kirche am Sonntag der Weltmission, der am 22. Oktober begangen wird.

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Die Kirche rüstet sich, in ihr drittes Jahrtausend einzutreten. Sie ist längst nicht mehr eine Kirche des Abendlandes, einer Kirche Mitteleuropas. Immer mehr verschieben sich die Gewichte in die Länder der Dritten Welt. Daran erinnert die Kirche am Sonntag der Weltmission, der am 22. Oktober begangen wird.

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Für fromme Hindus ist Benares, Shivas Stadt, heilig. In Benares scheint der Fluß noch einmal zu wenden, als fließe „Mutter Ganga“ zurück zu den Quellen im westlichen Himalaya. An den heiligen Ghats, am linken Ufer des Ganges, steht Tempel an Tempel Hundertausende pilgern jedes Jahr nach Benares, um hier zu. beten, zu baden und zu sterben.

In Benares, der heiligen Stadt, leben 700 Christen unter 700.000 Hindus, ein Christ auf tausend Hindus. Ein niederschmetterndes Zahlenverhältnis, könnte man meinen, das die Vergeblichkeit christlicher Missionsarbeit drastisch illustriert Auf dem riesigen indischen Subkontinent sind nur neun der 625 Millionen Menschen katholische Christen.

Aber gerade in Indien häufen sich die Zeichen für einen moralischen und missionarischen Aufbruch, der in der modernen Kirchengeschichte seinesgleichen sucht. Zum Beispiel Benares: Oberhalb eines Shiva-Schreines, wohin der Wind den Rauch der Scheiterhaufen schlägt, wohnen „Kleine Schwestern“ von Charles de Foucauld. Im heiligsten Bezirk der Hindus leben leise und unauffällig christliche Ordensfrauen.

Einen Steinwurf weiter liegt, eingeklemmt zwischen hinduistischen Tempelanlagen, ein Sterbehaus der Teresa-Schwestern. Um vier Uhr früh, wenn die Pilger die Treppen zum rituellen Bad hinuntersteigen, Bootsleute die Touristen für eine Kahnfahrt auf dem Ganges rufen, streifen die jungen Frauen durch die Gassen der heiligen Stadt, suchen die Sterbenden, die sich nachts in Hausgängen verkrochen haben, die verwitweten alten Frauen, die sich mit letzter Kraft an das heilige Wasser schleppen, um dort dem unseligen Kreis der Wiedergeburten zu entrinnen.

Christliche Texte nach Hindu-Weisen

In der Bannmeile von Benares arbeiten „Kleine Brüder vom Evangelium“ als arme Dorfschreiner. Sie gehen barfuß von Dorf zu Dorf, auf der Suche nach Arbeit und Brot; sie wohnen in einer winzigen Kammer, die nach Landessitte monatlich mit frischem Kuhdung ausgelegt wird, leben vegetarisch und fromm, als Arme unter Armen: Nazareth in Sun-derpur.

Wo sich ein heiliger Bach in den Ganges wirft, lebt ein asketischer Büßermönch das harte, strenge Leben eines indischen Sannyasis. Abends, wenn der Guru die Gebetsglocke läuten läßt strömen Nachbarn und Straßenkinder in den „Ash-ram“, wie in Indien die Klausen der Gottversenkung heißen Musik und Melodien sind den Hindus vertraut die Texte kaum, denn der Guru Ish-war Prassad ist katholischer Priester und Rektor des Seminars der „Indian Missionary Society“.

Kirche ist in Benares überall präsent, wenn auch diskret und dienstfertig. Benares ist kein Einzelfall. Eine arme Kirche findet sich heute in allen indischen Großstädten, etwas abseits von den großen Institutionen der Vergangenheit die den Indern immer fremd und feindlich schienen. In Madras, Delhi, Kalkutta oder Bombay wachsen christliche Ashram aus dem Asphalt haben sich couragierte Einzelkämpfer und Ordensgemeinschaften von den ausgetretenen Pfaden abgekehrt.

In Kalkutta etwa haben die „Mis-sionaries of Charity“ eine Pastoral am Bordstein entwickelt. Für den Männerorden sind die Bürgersteige der Millionenstadt nicht mehr bloß der Strand, wo man die Sterbenden und Verstoßenen einsammelt Da werden fliegende Armenkliniken eingerichtet, Schulklassen für Straßenräuber, Katechese für Ganoven... Bei der berüchtigten Howrath-Brücke brachten fünf engagierte Christen den riesigen Slum von Pilkhana in Bewegung. Inspiriert durch den französischen Prado-Priester Labor-de, gründeten sie mit Moslims und Hindus eine Nachbarschaftshilfe „Seva Sangh Samiti“, die nicht nur eine musterhafte Entwicklungsarbeit an der Basis, sondern auch die Aussöhnung verfeindeter Volksgruppen betreibt.

In Bombay, wo das Elend breiter Volksmassen durch protzige Prunkbauten und schamlos zur Schau gestellten Reichtum noch strenger wirkt als im längst verdorbenen Kalkutta, haben die „Helpers of Mary“ das saubere Mutterhaus verlassen und sind hinunter in die Not und den Schmutz der Slums gestiegen. Was die deutsche Ordensgründerin Anna Huberta Roggendorf den jungen Mädchen abverlangt, kennt keinen Vergleich. Sie hausen zu dritt oder zu viert in winzigen Hütten, in denen zur Regenzeit das Wasser meterhoch steht. In Jogeshwari zapfen die Schwestern heimlich die Stromkabel an, stehen sie morgens mit ihren Kanistern an der einzigen Lagerpumpe an, wo das Recht des Stärkeren gut da das Wasser nur stundenweise fließt

In Europa hat man diese „Kirche der Armen“ mit dem Namen der Mutter Teresa gleichgesetzt. Üabei ist Mutter Teresa nur eine Äußerung eines breiten Stromes, der viele kleine Strömungen hat: Die meisten dieser Gruppen und Gemeinschaften arbeiten im Verborgenen und scheuen jede Publicity. Aber das weltweite Charisma der Teresa hat die Existenz einer „Dritten Kirche“ ins öffentliche Bewußtsein gerückt.

Alle Sprecher dieser Gruppen betonen die starke missionarische Ausrichtung: „Mission“, sagt Bruder Andrew von den „Missionaren der Nächstenliebe“, „ist die Liebe Gottes unter den Menschen“, und Gott - so pflegte Petra Mönnigmann, die Ordensgründerin der „Dienerinnen der Armen“ im reinsten Ruhrpott-Slang zu sagen -, „Gott ist mit die Dummen“. „Das Evangelium“, so weiß der Dorfschreiner Vishwas in Banars, „richtet sich an alle Menschen, aber zunächst und besonders an die Armen.“

Auffallend ist daß diese Gruppen sich in der Großstadt ansiedeln. Bisher hatte die Kirche sich weitgehend darauf beschränkt, in der Stadt ihre Verwaltung und Dienstleistungen anzusiedeln. Für eine systematische Großstadtseelsorge hatte die Kirche in Indien kein Konzept und keine Kraft Viele Christen, die von der allgemeinen Landflucht erfaßt werden und in die Großstadt ziehen, sind einer raschen Säkularisierung unterworfen. Während die Mission traditionell auf dem Lande arbeitet, gehen die genannten Gemeinschaften in ihrer Pastoralarbeit von den Gegebenheiten der Stadt aus. Statt bloß entwurzelte Landleute pastoral zu betreuen, wird die ganze Stadt als Missionsfeld verstanden. Statt sich einem solchen sozialen Trend vergeblich entgegenzustellen, fügt man sich nahtlos in die städtische Szene ein

Neben ihrer „Stadtmentalität“ haben die „neuen Missionsgesellschaften“ ein anderes gemeinsames Kenn-

zeichen: Sie sind von Indern für Inder geschaffen. Sie haben sich geistig und organisatorisch vom Westen abgenabelt. Nicht von ungefähr sind Europäer, die dem Charisma der Mutter Teresa erlegen und in einen indischen Orden eingetreten sind, rasch überfordert: Die spezielle Spiritualität der Orden, der völlige Verzicht auf eine Privatsphäre, die konsequente Armut mit den entsprechenden hygienischen und ernährungsmäßigen Zuständen machen sie für einen Europaer auf Dauer unerträglich.

Dieser eigene „Dritte-Welt-Stempel“ hat die indischen Missionare längst die nationalen Grenzen passieren lassen: in Korea und Äthiopien, auf Neuguinea und im Jemen, in Lima und in Rom, in Los Angeles und Belfast, an fast allen Ecken der Erde, in den Slums der Ersten und Dritten Welt arbeiten heute indische Missionare. Während in Europa der Elan abebbt, kennt die indische Kirche seit'dem II. Vatikanum einen beispiellosen missionarischen Aufbruch Gerade in der indischen Kirche, die bisher mehr durch ihren leidigen Ritenstreit, ihre triumphalisti-schen Attitüden und schamlosen Bettelzüge von sich reden machte, zeichnet sich eine „franziskanische Revolution“ ab, die vom indischen Subkontinent längst auf andere Kontinente überschwappt.

Die' Päpstlichen Missionswerke haben den missionarischen Aufbruch in der Dritten Welt von Anfang an begleitet und gefördert. Auf dem indischen Subkontinent, wohin es den Apostel Thomas verschlagen haben soll, rüstet sich die Kirche für ihr drittes Jahrtausend. In Indien zeigt die kommende „Kirche des Südens“, die in dieser Generation die Kirchen des Ostens und des Westens ablösen und überflügeln wird, schon feste Konturen: eine „Dritte Kirche“ für die Dritte Welt.

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