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Eine Energiequelle des Geistes: Der Aufruhr der Minderheiten

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Die nationalen Minderheiten rühren sich in ganz Europa. Nicht nur Slowenen und Kroaten in Osterreich fordern mehr Rechte. Die Basken und Katalanen in Spanien haben erst kürzlich alle Ziele erreicht, haben nun neue ins Auge gefaßt. Die Schotten und die Waliser in Großbritannien erhalten früher oder später ihre kulturelle Autonomie. Und in Kleinbritannien, in der Bretagne? Mein Wirt auf der Ile de Croix war noch niemals in Paris: in der Hauptstadt der fremden Besatzungsmacht! In Sardinien herrscht nach dem ersten und zweiten autonomistischen Aufruhr nun Stille. Und in Ungarn? In Rumänien?

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Die nationalen Minderheiten rühren sich in ganz Europa. Nicht nur Slowenen und Kroaten in Osterreich fordern mehr Rechte. Die Basken und Katalanen in Spanien haben erst kürzlich alle Ziele erreicht, haben nun neue ins Auge gefaßt. Die Schotten und die Waliser in Großbritannien erhalten früher oder später ihre kulturelle Autonomie. Und in Kleinbritannien, in der Bretagne? Mein Wirt auf der Ile de Croix war noch niemals in Paris: in der Hauptstadt der fremden Besatzungsmacht! In Sardinien herrscht nach dem ersten und zweiten autonomistischen Aufruhr nun Stille. Und in Ungarn? In Rumänien?

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Das ist es eben! Alter Schmerz scheint nun wieder aufzubrechen, getragen von neuen Argumenten, die in der Tat neuen Konstellationen entsprechen. Optimisten, Humanisten, Utilitaristen, wir alle neigen dazu, solche Leiden und Leidenschaften nicht wahrnehmen zu wollen. Kann denn die Menschheit nicht zum Mond? Hat sie nicht das errungen, was wir lunare Perspektive nennen dürfen?

Das Lunare heilt nicht die Lunati-ker: die Mondsüchtigen der nationalen Romantik. Und Menschheit ist für Fanatiker nur ein blasser Begriff. Oder eine scheinheilige Parole.

Die Unruhe kommt für die Zukunftsplaner beider geistiger Hemisphären unerwartet. Schwärmer der expansiven Marktwirtschaft waren überzeugt davon, daß der Uniformismus der Massenproduktion alle Unterschiede wegwischen und die Zufriedenheit des Konsumenten zudem jede Lust an einer Rebellion auslöschen würde. Marxisten hielten den Nationalismus für eine Folgeerscheinung der kapitalistischen Entwicklung, die unter sozialistischen Produktionsbedingungen gemeinsam mit dem ganzen „bürgerlichen“ Uberbau verschwinden würde. Die Propheten der alten Ideologien haben sich auch in diesem Fall geirrt.

Einige Gründe des Aufruhrs scheinen ganz offenbar ans Tageslicht zu treten: die wachsende ökonomische und geistige Kraft mancher Regionen;das Bedürfnis nach metaphysischen Dimensionen in einer durchgeplanten pseudorationalistischen Gesellschaft; der Verzicht der europäischen Machtzentren auf offene Anwendung von Gewalt; eine instinktive Ablehnung der „großen Maschine“, die jeden auf seine materiellen Funktionen reduziert; und - nicht zuletzt - der Widerspruch zwischen den demokratischen Parolen und den Tendenzen der Unduldsamkeit seitens der Mehrheit.

Die Minderheiten glauben, die Wirklichkeit zu vertreten gegen verschiedene Fiktionen: die Wirklichkeit ihrer eigenen Kontinuität. Bei Gefahr kann auf echte oder falsche Ideen eines „höheren“ Universalismus keine Rücksicht genommen werden; und die Minderheiten glauben tatsächlich an eine Gefährdung ihrer Existenz.

In Ungarn erschien vor einigen Monaten in der Zeitschrift „Kortärs“ (Zeitgenosse) die alarmierte und alarmierende Studie „Herders Schatten“ von Emil Kolozsväri Grandpierre. Der Schriftsteller beschrieb den Verfall der Sprache und forderte zur Diskussion auf: über die Verteidigung des ungarischen Idioms als eine Sache der nationalen Existenz schlechthin. Herders Prophezeiung von 1791, wonach die Sprache der Ungarn früher oder später verschwinden würde (denn wie könnte sich dieses kleine asiatische Relikt inmitten des germanischen und slawischen Völkermeeres ewig behaupten?!), dieser Nebensatz aus „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ hat bereits seinerzeit heftigen Widerspruch hervorgerufen. Man antwortete Herder, indem man die Bemühungen im Dienste der Spracherneuerung verstärkte.

Grandpierre zeigte nun die Notwendigkeit eines neuen, analogen Aufbruchs.

In der letzten Woche des Jahres gewann die Diskussion neue Dimensionen. Zu Weihnachten und zu Neujahr erschien in der Tageszeitung „Magyar Nemzet“ (Ungarische Nation) die zweiteilige Grübelei des Poeten Gyula Illy6s: über Herder, über die ungarische Existenzangst, über die an manchen Orten bedrückende Lage der Minoritäten. Aller Minoritäten? Illy6s fordert eine internationale Konvention über die Rechte der Volksgruppen. Den Vorstoß müssen gerade die Ungarn wagen, denn- so argumentiert er - die größte nationale Minderheit in Europa ist die der Ungarn. Von den 15 Millionen Menschen ungarischer Zunge, die im Donaubecken leben, befinden sich fünf Millionen in Ungarns Nachbarstaaten.

Es gibt nun Minderheiten, schreibt Illyös, die mehr als eine Million Menschen zählen und dennoch: sie haben keine eigene Universität (diejenige, die sie besessen haben, wurde aufgelöst), haben bald auch keine eigene Mittelschule, können in ihrer Muttersprache kein Gewerbe erlernen Und weiter? In den Schulbüchern, aus denen die Kinder dieser Minderheit zu lernen haben, werden ihre eigenen Vorfahren verunglimpft. „Es kommt nicht selten vor, daß Arzt und Kranker, trotz der gleichen Muttersprache, sich nur mit Hilfe eines Dolmetschers verständigen können, da sie die offizielle Sprache benützen müssen.“ Es könnte sein, daß auch der Priester bei der Beichte, sogar bei Sterbefällen, einen Dolmetscher zuziehen muß, denn er darf ja auch in der Kirche nicht in der Sprache seines eigenen Volkes predigen. Und so weiter.

Illy6s nennt kein Land. Er wird dennoch verstanden. Er meint Rumänien: die Lage der Ungarn in Siebenbürgen.

Noch deutlicher wird die Anspielung durch ein Gegenbeispiel. Der Lyriker und Germanist Dezso Keresz-tury hat Novi Sad (Neusatz, Ujvide) besucht. Zwei Wochen nach Illyes meldete er sich in der Wochenzeitung „Tükör“ (Spiegel) zu Wort: mit einem Bericht über die rührige und rührend eifrige Tätigkeit des ungarischen Lehrstuhls an der Universität Novi Sad. Es wäre also möglich...! Auch Keresztury erinnert an jenen ersten Alarmruf. Die jungen Ungarn in der Vojvodina sind in der Lage, der Herderschen Vision praktisch zu entgegnen.

Grandpierre, Illy6s, Keresztury: die Schriftsteller artikulieren die Summe einer vitalen geistigen Strömung. Das Erstarken des selbstbewußten Patriotismus in Ungarn ist nicht nur Ziel, sondern auch Folge einer mit Jänos Kädär verbundenen Politik. Der Empfang der Stephanskrone war nur ein Zeichen unter anderen.

Wie könnte ich über die Gründe dieser Stimmungswelle irgendwelche Mutmaßungen anstellen?! Ich möchte lieber das Ergebnis mancher Gespräche zusammenfassen. Meine Gesprächspartner waren keine Gegner des Regimes. Im Gegenteil.

Die Gründe?

• Unter der verwirklichten Parole „Wer nicht gegen uns ist, ist mit uns“ ist es dem Regime gelungen, die Mehrheit der Bevölkerung, also auch die Mehrheit der Patrioten für sich zu gewinnen. Der Leitsatz der Kulturpolitik, „Hegemonie ja, Monopol nein“, sichert auch wesentliche Gedankenfreiheiten und mobilisiert die Intellektuellen.

• Die verhältnismäßig erfolgreiche Politik wirkt sich (einfach durch die Ausstrahlung des Erfolges) auch auf ideologisch fernstehende Gruppen aus. Sie melden sich zur Mitarbeit, und zwar unter Berufung auf die grundlegenden patriotischen Gemeinsamkeiten.

• Da man geistige Fragen in offener Diskussion klären will, müssen verschiedene Ansichten zu Wort kommen (selbst die nationalistisch gefärbten). Mit dem erzwungenen Schweigen zu debattieren, wäre Unsinn.

• Die Nationalitätenpolitik der rumänischen Regierung widerspricht den sozialistischen Prinzipien. Jeder ordentliche Marxist-Leninist muß sich also, schon aus prinzipiellen Gründen, für die unterdrückten Volksgruppen einsetzen. Bereits Lenin hat die Grenzen der Verträge von Versailles und Trianon 1919 als Friedensdiktat gebrandmarkt. Also fällt es auch manchen sowjetischen Kreisen nicht allzu schwer, die ungarischen Patrioten stillschweigend zu unterstützen. In der Frage Bessarabiens und der Nordbukovina wendet sich ja der rumänische Nationalismus direkt gegen sowjetische Interessen... So weit meine Gesprächspartner.

Mutmaßungen über mögliche Hintergründe anzustellen ist müßig; Stellung zu nehmen ist Pflicht.

Daß die Mehrheit (jede Mehrheit) auch unbewußt dazu neigt, Minderheiten zu assimilieren, daß manche Minderheiten die Möglichkeit der Assimilation geradezu suchen: wir wissen es aus der Geschichte. Ganze Länder können aufgeteilt werden und als staatliche Einheiten verschwinden: wie das alte Polen, das Armenien oder der Judenstaat des Alten Testamentes. (Beispiele von Illyes.) Auch manche Völker verschwinden nahezu spurlos: wie die Awaren oder die Petschenegen an der heutigen Stadtgrenze von Wien.

Heißt das, die Volksgruppen mögen also resignieren? Im Gegenteil! Die Gefahr verdoppelt den Lebenswillen und die neu gewonnene Vitalität kann geistig sublimiert werden, für die Minderheit und - auch für die Mehrheit. Denn in dieser Auseinandersetzung gibt es nur gemeinsame Verlierer oder gemeinsame Gewinner.

Die Mehrheit, die eine Minderheit verliert, macht sich ärmer, sie verzichtet auf die Inspiration, auf die kulturelle Bereicherung, auf die freundliche geistige Auseinandersetzung mit dem Anderen. Vielfalt ist besser als Einfalt. Und unsere Gegend, dieser Winkel von Europa mit seinen germanischen, slawischen, ungarischen, romanischen Gruppen ist unsere einzigartige Chance: nicht als Schlachtfeld, sondern als Kraftfeld der gemeinsamen Arbeit.

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