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Eine Europäische Volkspartei

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Ein politisches Kräftesammeln neuen Stils hat begonnen. Sozialisten, Liberale und Christliche Demokraten knüpfen die grenzüberschreitenden Bande zu ihren Schwesterparteien enger. Nicht alle demokratischen Parteien in Europa lassen sich diesen politischen Familien zuordnen. Manche sind noch auf der Suche nach Partnern. Nicht alle politischen Kräfte beteiligen sich mit gleichem Eifer an dieser neuen Variante europäischer Integrationspolitik. Zwölf christlich-demokratische Parteien schlössen sich im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft zu einer föderativen, transnationalen Partei zusammen. In weniger als neun Monaten konnte die Gründungsphase abgeschlossen werden. Am 8. Juli 1976 wählten die Delegierten Leo Tindemans, Belgiens Premierminister, zum ersten Präsidenten der Europäischen Volkspartei (EVP).

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Ein politisches Kräftesammeln neuen Stils hat begonnen. Sozialisten, Liberale und Christliche Demokraten knüpfen die grenzüberschreitenden Bande zu ihren Schwesterparteien enger. Nicht alle demokratischen Parteien in Europa lassen sich diesen politischen Familien zuordnen. Manche sind noch auf der Suche nach Partnern. Nicht alle politischen Kräfte beteiligen sich mit gleichem Eifer an dieser neuen Variante europäischer Integrationspolitik. Zwölf christlich-demokratische Parteien schlössen sich im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft zu einer föderativen, transnationalen Partei zusammen. In weniger als neun Monaten konnte die Gründungsphase abgeschlossen werden. Am 8. Juli 1976 wählten die Delegierten Leo Tindemans, Belgiens Premierminister, zum ersten Präsidenten der Europäischen Volkspartei (EVP).

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Die Ankündigung der Direktwahl des Europäischen Parlaments dürfte — ähnlich wie bei den Liberalen, Sozialdemokraten und Sozialisten — die Rolle des auslösenden Faktors gespielt haben. Anders jedoch als jene, die ihre europäischen Zusammenschlüsse „Bund“ (Sozialisten) oder „Föderation“ (Liberale) nennen, wählten die Partner der EVP die Bezeichnung „Partei“.

Damit wurde zwar mehr ein Ziel als ein Zustand umschrieben. Doch Ist diese Zielbestimmung nicht unrealistisch, wenn man die historische Entwicklung berücksichtigt. Die christlich-demokratischen Parteien in Europa sind alle mehr oder weniger aus einer christlich-bündischen Bewegung hervorgegangen. Teilweise stützen sie sich noch heute darauf. In dem Maße allerdings, in dem der partei-änterne Integrationsprozeß voranschritt und in seiner politischen Anziehungskraft über das klassische Milieu hinauswirkte, verlor die indirekte Struktur der betreffenden Parteien an Bedeutung. Sie wandelten ihren Charakter in den einer mdtgliederstarken Volkspartei. Beispielhaft für diesen Prozeß ist der Weg der deutschen Unionsparteien. Sie sind es daher auch, die bei ihren Partnern darauf drängen, die potentielle Integrationskraft der EVP nicht auf die christlich-demokratische Bewegung zu beschränken.

Der Kreis der Gründungsmitglieder der EVP jedoch blieb zunächst begrenzt. Die langjährige Zusammenarbeit in der Union Europäischer Christlicher Demokraten und die programmatische Homogenität der Gründungsmitglieder stellten ein Startkapital dar, dessen' man sich nicht leichtfertig begeben wollte.

Schon unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg setzt die Zusammenarbeit der christlich-demokratischen Parteien ein. 1947 konstituierten sich die „Nouvelles Equipes Internationales“ — ein neutraler Name für einen europäischen Verband christlich-demokratischer Parteien, denen bis 1948 auch Equipen aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn angehörten. In den „Genfer Gesprächen“ begegneten einander Alcide de Gasperi, Robert Schuman und Konrad Adenauer.

Hier faßten sie Vertrauen zueinander. Hier wurde die Architektur einer Europapolitik entwickelt, die die politische Entwicklung der fünfziger Jahre bestimmt und mit den Europäischen Gemeinschaften das Gesfftht Europas bis heute geprägt hat. 1964 entstand durch Namensänderung die EUCD, die Europäische Union Christlicher Demokraten. Am 26. September 1975, in Luxemburg, setzte das Comite Politique der EUCD eine ad-hoc-Arbeitsgruppe „Europäische Partei“ ein. Unter der gemeinsamen Leitung des Vorsitzenden der belgischen CVP, Maertens, und des damaligen Vorsitzenden der Christlich-Demokratischen Fraktion des Europäischen Parlaments, des CSU-Bundestagsabgeordneten Lük-ker, legte diese Arbeitsgruppe dem Comite Politique der EUCD am 22. Februar 1976 in Paris einen Satzungsentwurf vor. Am 29. April 1976 in Brüssel fand dieser Entwurf die Zustimmung der zwölf Gründungsmitglieder.

Im Gegensatz zu den Föderationen der Sozialisten und Liberalen steht die EVP von vornherein auf einer programmatisch sehr viel homogeneren Grundlage:

— das Welt- und Menschenbild der christlich-humanistischen Tradition, das einerseits einen person-bezoge-nen Freiheitsbegriff bedingt (Personalprinzip) ;

— das anderseits aber auch seine ordnungspolitischen Begrenzungen liefert (Solidardtätsprinzip, soziale Marktwirtschaft);

— eine gemeinsame Sozialethik, deren konkrete Ausforrnulierung (Sub-sidlaritätsprinzip) und transzendente Verankerung dem Lehrgebäude des Marxismus antithetisch gegenübersteht;

— der gemeinsame Wille zur politischen Einigung des freien Europa und zu einem neuen erweiterten Rollenverständnis Europas sowohl in der Nord-Süd-, wie in der West-West-, wie in der West-Ost-Konstel-latiori.

Den Wert dieser gemeinsamen anthropoligischen, ordnungspolitischen und außenpolitischen Grundausrichtung ermißt man richtig erst, wenn man das Scheitern der Sozialdemokraten und Sozialisten am Projekt Sicco Mansholts zur Kenntnis nimmt. Der langjährige Vizepräsident der EG-Kommission unternahm

in den Jahren 1973 und 1974 den vergeblichen Versuch der Gründung einer Europäischen Sozialdemokratischen Partei. Nach der entscheidenden Zusammenkunft der sozialistischen Parteiführer und Regierungs-cljefs am 172. November 1974 in Den Haag schrieb Wilhelm Dröscher in der „Neuen Gesellschaft“ (Nr. 12/ 1974): „Niemand hält es mehr ernsthaft für möglich, zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine europäische sozialdemokratische Partei zu gründen.“ Zwar gelang es kurz darauf, diesen Fehlschlag zu übertünchen. Die Mitgliedsparteien der Sozialistischen Internationale aus den EG-Staaten konstituierten sich am 13./14. Februar 1975 in Bonn unter der Bezeichnung „Bund Sozialdemokrati-

scher Parteien in der EG“ als eine Art von Brdefkastenfirma. Doch wenig später, am 16./17. Jänner 1976, brachte die europäische Sozialistenkonferenz in Helsing0r die Bruch-linien innerhalb des demokratischen Sozialismus in Europa deutlich ans Licht. Es bestehen drei grundsätzliche Kontroversen:

— die ordnungspolitische Auseinandersetzung zwischen Anhängern der Planwirtschaft und Befürwortern einer aufgeklärten Marktwirtschaft;

— der tiefgehende Streit über die Opportunität der Zusammenarbeit mit Kommunisten;

— die traditionsbeladene Kontroverse über das Für und Wider einer Politik der Einigung des freien Europa.

Paradoxerweise ist es diese ordnungspolitische und ideologische Unzulässigkeit des politischen Gegners, die den europäischen Demokraten Schwierigkeiten bereitet.

Es gibt unter den Gründungsmitgliedern der EVP Parteien, die Mitte-links-Koalitionen schließen, und solche, die entweder Linkskoalitionen bekämpfen oder sich in der Regierung gegen eine Volksfront behaupten müssen. Dieser Situation wohnt ein gewisses innerparteiliches Polarisierungspotential inne. Schon der EUCD ist die unterschiedliche Koalitionspolitik ihrer Mitglieder intern schlecht bekommen. Sie geriet politisch beängstigend nah an die Grenze zum Immobilismus. Doch wenn der Anschein nicht trügt, beginnt das Problem sich von selbst zu lösen. Je stärker die Anziehungskraft des Eurokommunismus auf die Parteien des demokratischen Sozialismus wirkt, je weiter sich also die Volksfrontbewegung in Europa ausbreitet, desto dringender wird in den christlich-demokratischen Parteien das Bedürfnis nach Befestigung des eigenen Standorts in der Mitte des politischen Spektrums.

Nach der Entscheidung der italienischen Sozialisten für eine Volksfront mit der KPI, dem dadurch verursachten Sturz der Regierung Moro,

der seinerseits die.italienischen Parlamentswahlen vom 20. Juni 1976 zur Folge hatte, gibt es heute in der Europäischen Gemeinschaft nur noch eine Mitte-Mnks-Koalition in den Niederlanden. Und selbst dort ist es nur ein Teil des „christlich-Demokratischen Appells“, die KVP, die die Regierung des Sozialisten

Den Uyl (noch) unterstützt. In Belgien und in Frankreich behaupten sich die EVP-Partner in der Regierung gegen eine sozialistisch-kommunistische Opposition. In der Bundesrepublik und in Luxemburg geht es um die Rückgewinnung der Regierungsverantwortung gegen sozialliberale Koalitionen. Die Problematik der christlich-demokratischen Minderheitsregierung in der polarisierten Parteienlandschaft Italiens ist allseits bekannt. ,

Es ist hier nicht der Ort, in eine Untersuchung der unterschiedlichen gesellschaftspolitischen und wirt-sohaftsstrukturellen Gegebenheiten der neun EG-Mitgliedsstaaten einzutreten. Solange eine rein nationale Ausrichtung die Politik der Parteien bestimmt hat, mußten sich diese Divergenzen in unterschiedlichen Koalitionen niederschlagen. Künftig aber wird auch ein europäischer Aspekt zu berücksichtigen sein, denn im Leben der EVP wird die Koalitionsfrage stets eine wichtige Rolle spielen.

Im Hinblick auf ein direkt gewähltes Europäisches Parlament kann diese Frage sogar geschichts-trächtige Bedeutung erhalten. Denn, wie immer man die künftige Zusammensetzung des Europäischen Parlaments hochrechnet, ohne die EVP wird weder die Linke noch die bürgerliche Mitte mehrheitsfähig seih. Dem könnte man entgegenhalten, daß das Europäische Parlament weder heute noch in Zukunft weitreichende politische Befugnisse besitzen wird. Die Koalitionsfrage sei daher von geringer Bedeutung.

Dieses Argument läßt das politische Selbstverständnis einer direkt gewählten europäischen Kammer außer Ansatz. Ein solches Selbstverständnis wird möglicherweise dazu führen, daß dieses Parlament seine institutionellen Eingrenzungen

durchbricht.

Eine von einem direkt gewählten Europäischen Parlament ausgehende europäische Revolution von oben — in welcher Form, mit welchen Mehrheiten und in welcher Richtung immer — kann niemand ausschließen. Es ist gerade diese Perspektive, die das Zögern der Regierungen bei der endgültigen Beschlußfassung über die Einführung der europäischen Direktwahl erklärt. Doch selbst wenn dieser Fall nicht eintritt, wird ein direkt. gewähltes Europäisches Parlament mindestens in die Rolle einer europäischen Konsti-

tuante hineinwachsen. Auch ein europäischer Verfassungsentwurf kann Weichenstellungen mit weitreichenden Folgen bringen.

Der Europäischen Volkspartei und den sie tragenden Kräften wächst

also eine politische Verantwortung zu, der gerecht zu werden umfangreiche politische und organisatorische Maßnahmen erforderlich macht.

Den Kern dieser Aufgabe bildet die Lösung des eigenen Integrationsproblems. Die Erfahrung zeigt, daß häufige Begegnungen sowie politisches und persönliches Sichkennenlernen dafür die besten Voraussetzungen schaffen. Wo nationale Spitzenpolitiker den dafür erforderlichen Zeitaufwand dauernd nicht leisten können, müssen andere, technische Mittel der Kommunikation herangezogen werden. Die auf staatlicher Ebene entwickelten Kommunikationsformen — so dm Rahmen der EPZ und des Zentralbankensystems — bieten Anschauungsmaterial.

Die Bedeutung von Spitzentreffen wird dennoch bleiben, schon wegen deren Öffentlichkeitswirkung. Auch die Regierungen r ißten dies einsehen. Aus diesem Grunde entstand der Europäische Rat der Regierungschefs.

Zu einem wichtigen Feld innerparteilicher Integrationsarbeit wird die Erarbeitung eines Aktionsprogramms oder einer Wahlplaittform der EVP gehören. Die gemeinsame anthropologische, ordnungspolitische und europapolitische Basis der Gliedparteien, eingearbeitete Gremien auf nationaler Ebene (Programmkommissionen der Gliedparteien) und erste. — bereits vorliegende Formulierungshilfen lassen diese Aufgabe lösbar erscheinen.

Parallel zur Programmarbeit stellt sich möglicherweise schon von der Jahreswende 1977/78 an die Aufgabe einer koordinierenden Planung des europäischen Wahlkampfes. Wenn die EVP die politische Uberzeugungskraft ihrer Existenz als transnationale Partei voll ausschöpfen will, müssen sich die EVP-Partner alsbald über gemeinsame Werbesymbole, über Werbeträger, Ttaiing, koordinierten Rednereinsatz und über die auch hier ganz unvermeidliche Finanzierungsfrage einigen.

In der modernen Parteiendemokratie ist die verfügbare Finajz-masse nach der persönlichen Einsatz-und Opferbereitschaft der Mitglieder, der Mandats- und Funktionsträger ein Indikator für politische Erfolgschancen. Bis zum Inkrafttreten des vorgesehenen Finanzstatus werden die Gliedparteien mindestens die Kosten für die von ihnen übernommenen europäischen Aufgaben zu tragen haben.

, Die EVP wird auf Partner inner-

halb und außerhalb der Europäischen Gemeinschaft Rücksicht nehmen müssen. Die Frage ob und, wenn ja, wie man um die EVP einen Kranz assoziierter Parteien bilden kann, bedarf noch einer Zeit der Reife. Vorerst genügen Spitzentreffen und die bewährten Formen der politischen Konsultation.

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