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Eine „Exekution“ des christlichen Liedes?

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Das Katholische Gebet- und Gesangbuch „Gotteslob“ — kurz Einheitsgesangbuch oder EGB genannt — wird nun für alle Diözesen Deutschlands und Österreichs verbindlich eingeführt. In ihm spiegelt sich die Kirchenmusik der Jahrhunderte von der Hochblüte des Gregorianischen Chorals bis zu freirhythmischen Versuchen eines deutschen Antiphonars für die Gegenwart. Seit

dem Tridentinum hielt die lateinische Liturgie die beharrende

Balance und bildete eine starke Klammer gegenüber den volkssprachlichen Liturgieansätzen. Mit der Reform des Zweiten Vaticanums hat sich der Drang nach Kontinuität in der Liturgie dem geistlichen Lied zugewandt und es von der Mischpoesie des Mittelalters bis zu den rhythmischen Gesängen unserer Jahrzehnte in eine neue Funktionsebene eingeordnet. Nach so manchen Vorstößen ist nun das Gotteslob der Muttersprache liturgiefähig geworden, freilich in einer Zeit, da — anderen Bereichen kirchlichen Lebens nicht unähnlich — längst der Anschluß versäumt wurde. Die Reform geriet in eine Zeit künstlerischer Dürre! Das „Gotteslob“ selbst urteilte unerbittlich, wo in den beliebten deutschen Singmessen der dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts (Haas, Lechthaler, Goller) die Zusammenhänge mit der Zeit ersichtlich waren: sie wurden als zu „leicht“ befunden und in das EGB nicht aufgenommen!

Der Blick fiel also zurück auf das reiche Repertoire der Renaissance und des Barock, der Geist einer „zweiten Aufklärung“ muß glücklicherweise nicht durchgängig festgestellt werden, eine Apperzeption des romantischen Liedes — in den anderen künstlerischen Bereichen überall vorhanden scheint nicht stark auf, und von den 250 Stammliedern sind sogar 120 aus den Jahren 1950—1972. Es bleiben schließlich knappe 50 Lieder aus der gesamten katholischen Singtradition, die unverändert in die Stammausgabe eingegangen sind. Damit war zwar

nicht der Weg zum musealen Gesangbuch, aber dessen Uniformität geebnet. Das Schicksal der Editio Vaticana, der einheitlichen offiziellen Choralfassung für das römische Missale und Brevier, könnte zum Nachdenken stimmen: 1905 wird mit dem Kyriale begonnen, 1908 mit dem Graduale das Werk fortgeführt und mit den Karwochengesängen 1923 für immer beendet. Die Editio Vaticana blieb eine bloße Sammlung und damit — ein Torso! Und was wird aus dem Liedschatz der im Gotteslob versammelten Jahrhunderte in den Herzen der Gläubigen freudiges Echo finden und was wird aus der Frömmigkeit des Wortes und der Musik sich in Andacht, Gottesfurcht und Zuversicht verwandeln? Wo zeigen sich die „Hoffnungsgebiete“ der Kirchenmusik?

Zurück zur Gregorianik?

Die fünf Choralmessen des EGB haben als letzte Relikte einer einheitlichen lateinischen Kultsprache nur mehr ein Alibidasein, da der Mut zur Ursprünglichkeit mit den Revitalisierungen des Gregorianischen Chorals schon im 19. Jahrhundert abhanden gekommen war und der Ersatz der deutschen Choral-adaptierungen sich anbot. Doch könnte die Gregorianik über die Umwege der weltlichen Musik wieder in das musikalische Bewußtsein der Kirche gebracht werden und nach dem Verschleiß der Muttersprache als „mater et caput“ auch weiterhin Impulse für den Volksgesang geben! Die exzessiven, sogenannten rhythmischen Gesänge, werden sich auf keinen Fall als Zukunftsideal für den Volksgesang in der Kirche einspielen! Weiters sei das Bemühen Uneingeweihter entschuldigt, die Schwierigkeit Gregorianischer Melismatik nachzuvoll-ziehen. Aber daß auch nur geringfügige agogische Affinität zum musikalischen Geschehen des 20. Jahrhunderts im Kirchenlied auf sich warten läßt, muß enttäuschen, denn kein einziger Ordinariumssatz der Alban-, Paulus- und Allerheiligenmesse wagt es, sich in das Neuland zukünftiger Kirchenmusik vorzutasten. Paradoxerweise aber wird der komplizierte Duktus der Sopran- oder Tenorstimme aus dem Renaissancemadrigal als für den Volksgesang komponiert angenommen, dem Volke zugemutet! Die Melodie der Nummer 132 „Es ist ein Ros entsprungen“ steht als klassisches Beispiel, für die anderen und weist sich eindeutig in den Varianten der Gesangsbücher von Cöln 1599, von Konstanz 1600, von Würzburg 1628 als dem zeitgenössischen Madrigal zugehörig aus; ebenso wie die etwas späteren Psalmlieder drängen diese Melodiegerüste zu den uns heute geläufigen Formen des isometrischen — also gleichmäßigen — Volksgesanges.

Oder ignorierten die Herausgeber des EGB das Ergebnis der Forschung? Suchen sie wirklich eine polymetrische Urform des katholischen wie evangelischen Kirchenliedes? „Was uns heute selbstverständlich scheint, eine einstimmige Melodie mit bestimmten, gemessenen nur für diese einstimmige Fassung gedachten Notenwerte auszudrücken, kennt die Zeit nicht, und das braucht sie auch nicht zu kennen, denn es ist ihre selbstverständliche Praxis, daß die einstimmige weltliche wie geistliche Liedweise in einer schlichten, dem Rhythmus und Akzent des Verses annäherungsweise angepaßten Bewegungsform gesungen wird. Jeder Versuch, .polymetrische Urformen' zu finden, ist zum Scheitern verurteilt, weil es sie nicht gibt.“ (F. Blume.)

Die Bedeutung von Parsch

Die Bedenken gegen ein gemeinsames Gesangbuch für den gesamten deutschen Sprachraum erheben sich schon bei den Beschlüssen der Fuldaer Bischof skonferenz von 1916, denn die dort vereinbarten 20 Einheitslieder waren nur für die zur Konferenz gehörenden Diözesen verpflichtend; in der turbulenten Nachkriegszeit kamen sie erst gar nicht zur Ausführung, und an die Angliederung Bayerns an die deutsch-sprachigen Diözesen der österreichisch-ungarischen Monarchie zu denken, überließ

man der ungewissen Zukunft. Man kapitulierte, da man zu sehr um das Eigenleben und die Unterschiedlichkeit Süddeutschlands, Bayerns, Österreichs und der Schweiz auch im gottesdienstlichen Gesang wußte! Riefen im 19. Jahrhundert historische Argumente nach mehr Einheitlichkeit, waren es in den frühen zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts praktische Überlegungen, die zu einem radikalen Kurswechsel führten: ein gesamtösterreichisches Singbuch für alle aktiven Gemeinden auszuarbeiten. Vor allem die volksliturgische Bewegung des Klo-sterneuburger Chorherrn Pius Parsch, die in der Nachkriegszeit aufbrach, stellte das vorhandene Liedgut vor neue Aufgaben. Die Jugendbewegung dieser Zeit brachte Wertvolles aus der Vergangenheit zum Einstand in die einzelnen Di-özesangesangbücher ein, aber wußte wohl um die Eigenständigkeit im österreichischen Lied bei aller Fülle, die sich vom „Reich“ her anbot: Noch die Arbeitsgemeinschaft der Kirchenmusik-Kommissionen im Mai 1971 in St. Pölten beschloß, nur einen Kanon von Einheitsliedern aus dem EGB zu übernehmen und im übrigen ein österreichisches Einheitsgesangbuch zu schaffen.

Mit Recht berief sich die Kommission auf die österreichische Bischofskonferenz in Rom vom 22. Oktober 1965, die sich gegen die Mitarbeit Österreichs am EGB ausgesprochen und nur für einen kleinen Anhang von österreichischen Einheitsliedern zu den Diözesangesangbüchern plädiert hatte! *

Massive Gründe lenkten dann den

österreichischen Episkopat zum Einschwenken auf die von Deutschland angebotene Einheitslösung: die nach den beiden Weltkriegen zunehmende Binnenwanderung, überdiözesane Bewegungen, Großveranstaltungen und — die vielen Urlauber aus der Bundesrepublik. Auch das Service in der Kirche sollte nichts zu wünschen übrig lassen und damit war das Aufgeben der großen musikalischen Tradition unseres Landes und der einzig möglichen Pluriformität des Kirchenliedes Wirklichkeit! Was wiegen dagegen musiksoziologische und musikpädagogische Gründe? Selbst eine Mitarbeiterin am EGB kommt zu einem sehr herben Schluß: „Der .mobile Mensch' wird nun auf seiner .Binnenwanderung' überall das gleiche Gesangbuch finden. Aber wie mobil ist die Gesellschaft wirklich? In der Bundesrepublik ziehen innerhalb von fünf Jahren etwa 8 Prozent der Bevölkerung in ein anderes Bundesland, — in Österreich sind es nur 2,5 Prozent. (Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1973 und Statistische Nachrichten, Wien 1973). Damit sie sich überall zu Hause fühlen, wird den Daheimgebliebenen (von denen man immer noch mit gutem Gewissen sagen kann, daß es die meisten sind) die Gewohnheit zerstört, ohne die man nirgends — auch nicht bei sich selbst — zu Hause ist. Dieser Zustand wird von den Verantwort-

liehen mit der Bemerkung verharmlost, in zehn Jahren würden die Leute, nach geschickter Umschulung, meinen, sie hätten dies alles schon immer gesungen. Zum ersten Mal in der Geschichte des deutschen Katholizismus tritt ein einziges Buch an die Stelle von bisher etwa vierzig regionalen Gesangbüchern, deren gesamte Liedtradition — bis auf eine verhältnismäßig kleine Auswahl — nun aus dem kirchlichen Leben in die Archive der Hymnologie und musikalischen Volkskunde verschwindet. Zwar ist es den Diözesen erlaubt, in einem hundert Seiten starken Anhang einen Teil ihrer regionalen Lieder zu retten, — trotzdem schätzt der Volksliedforscher Wilhelm Schepping den Gesamtverlust auf zehntausend Lieder und Varianten.“ (C. Spaemann.)

Melodien der Unerschöpflichkeit

Den demokratischen Usancen unserer Zeit folgend, entschied über Aufnahme oder Ablehnung die Abstimmung innerhalb der Liedkommission. „Stille Nacht, heilige Nacht“ etwa konnte nur mit geringer Stimmenmehrheit in das EGB kommen! Und diese „Exekution“ erstreckte sich pro Tag auf 40 bis 50 Lieder! Um wieviel behutsamer ließen es sich die Herausgeber von Gesangbüchern in der Vergangenheit angelegen sein, aus der Vielfalt das Beste auszuwählen. In der Vorerinnerung an den Leser in der „Tochter Sion“, 1741, steht: „Gleich nun die Lieder alle Neu, also erforderte auch jedes eine Neue Singweiß um so mehr, da die mehriste Singweisen des alten gemeinen Gesangbuchs verlüstiget

worden, oder jedoch die wenigsten darunter einen erbaulichen Thon enthalten, so hab ich dahero keine Kosten noch Sorge erspahret solche von den bewehristen Capellen-Meistern und Music-Verständigen unseres Teutschen Landes verfertigen zu lassen, und zwar von Verschiedenen, damit die Melodien nicht zu viel in selbige Thöne einfallen mögten, wie leichtlich gschehen dürfte, wenn solche von einem Meister alleinig verfasset wären worden. Ich hab auch nicht nur eine, sondern viele Melodien von verschiednen Meistern über ein Lied verfertigen, und daraus durch Music-Verständige die angenehmste, und welche sie dem Kir-chen-Stylo mehr gemäß befunden, auswählen lassen, damit dem Publico ein Gnügen geleistet und Gottes Ehr diemehr befürdert würde.“

Es sei zugegeben: Der Weg zu einem deutschen Einheits-Gebet-und Gesangbuch war mit vielfachen Hindernissen gesäumt, die Verlagerung der Entscheidung in die Gremien mit den diversen Subkommis-sionen machte das Anliegen nur schwieriger, und in der Zuziehung österreichischer Experten konnte doch nur für den Österreich-Anhang mit seinen 54 Nummern ein Kompromiß erzielt werden. Bei solch differenzierten Gewächsen, wie es unsere Kirchenlieder sind, gab es kein botanisches- Bestimmungsbuch für die Historiker, Ästheten und Praktiker zu einem Stimmkonsens! Die Textfragen sollen hier gar nicht zur Diskussion stehen, wobei generell gilt, daß Modernisierungen nicht immer Verbesserungen sein müssen. Nach dem Einsetzen der Monodie im Barock —i die Renaissance lebte noch vom Stimmstrom der Vokal- oder Instrumentalstimmen — erschließen sich für das geistliche Lied Tiefendimensionen, welche das Kunstlied der Klassik mit Ausdruck und die Romantik mit Stimmung bereichert. Mit der Affektenlehre der Vergangenheit konnte die Auswahl der Lieder nicht mehr geschehen, da nach Schopenhauer die Unerschöpflichkeit möglicher Melodien der Unerschöpflichkeit an Verschiedenheit der Individuen, Physiognomien und Lebensläufe entspräche. Grundsätzlich aber drücke die Musik nicht diese oder jene einzelne Freude aus, sondern die Freude, „gewissermaßen in abstracto, das Wesentliche derselben ohne alles Beiwerk“. Damit wären die Ästhetiker der Kommission zu bevorzugen gewesen: Es gibt ja keine Chance für die späten Nachfahren eines aufklärerischen Pietismus, und das Prisma der Objektivität des „geistlichen Liedes an sich“ mit der Gottesbezogenheit aller Jahrhunderte sondert alle seichte Gebrauchsmusik aus.

Zuwenig Praktiker?

Im katholischen Gesangbuch „Can-tate“, das Heinrich Bone 1847 herausgab, steht im Vorwort: „Der katholische Gottesdienst ist die lebendige Architektur des katholischen Glaubens. Wie der Tempel nicht etwa als bloßer Versammlungsort für die bloße Gemeinde da ist, sondern in seinem Schmuck und seiner ragenden Schönheit gleichsam selbständig dem Herrn angehören und ihm gefallen soll, so ist auch der katholische Gottesdienst nicht etwa bloß eine geordnete Art und Weise, sich zu erbauen oder Gott zu bitten und ihm zu danken, sondern er ist zugleich ein wahrer Dienst.“

Mit der rigorosen Auswahl der Lieder hätte man übrigens auch der Praxis des kirchlichen Volksgesanges einen großen Dienst erwiesen. Oder waren die Praktiker nur zu schwach vertreten, um die der Praxis eigenen Gesetze durchzusetzen? Ein weniger an Zahl wäre ein mehr an Gehalt geworden! Der Umgang mit Diözesangesangbüchern läßt die Erfahrung vom „stummen“ Chor der nicht akzeptierten Lieder nicht schwinden. Die umständliche Einteilung tut das ihre: „zu suchen, aber schwer zu finden.“ Sollte das EGB auch keine Sammlung geistlicher Lieblingslieder (geistliches Wunschkonzert) werden, so wird das in den Kommissionen unzureichend vertretene Volk doch die „eigentliche“ Auswahl für die Zukunft treffen und mehr noch die „mitleidlose“ Zeit!

Das EGB hat die Tradition des deutschen Kirchengesangs gewahrt. Sie fortzuführen, liegt in vielen noch als Aufgabe vor uns.

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