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Eine Farbe: grau

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In sieben Jahren vier Verweigerungen eines Visums und bis zur Stunde keine Erklärung dafür, obwohl die nahe Verwandte in der DDR alle Instanzen immer wieder bestürmte. Dann plötzlich, beim fünften Anlauf, als die Hoffnung schon fast auf den Nullpunkt gesunken war, die große Überraschung: das vorläufige Visum! Es sei ihm, so schrieb der Verwandte, voh einem Herin persönlich überbracht worden, der sich als Angehöriger der Bezirksregierung vorgestellt habe. Sehr liebenswürdig und teilnahmsvoll habe er sich nach den Lebensverhältnissen der Familie dort erkundigt und nur so nebenbei den Wunsch geäußert, mit dem Besucher aus dem Westen, sobald er eingetroffen sei, ein Gespräch zu führen. Der Auftakt war zwielichtig genug. Das gleiche Zwielicht lag aber dann über allem, was sich in diesen Wochen präsentierte. Gelegentlich brach ein Sonnenstrahl hindurch — die vorherrschende Farbe aber war grau.

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In sieben Jahren vier Verweigerungen eines Visums und bis zur Stunde keine Erklärung dafür, obwohl die nahe Verwandte in der DDR alle Instanzen immer wieder bestürmte. Dann plötzlich, beim fünften Anlauf, als die Hoffnung schon fast auf den Nullpunkt gesunken war, die große Überraschung: das vorläufige Visum! Es sei ihm, so schrieb der Verwandte, voh einem Herin persönlich überbracht worden, der sich als Angehöriger der Bezirksregierung vorgestellt habe. Sehr liebenswürdig und teilnahmsvoll habe er sich nach den Lebensverhältnissen der Familie dort erkundigt und nur so nebenbei den Wunsch geäußert, mit dem Besucher aus dem Westen, sobald er eingetroffen sei, ein Gespräch zu führen. Der Auftakt war zwielichtig genug. Das gleiche Zwielicht lag aber dann über allem, was sich in diesen Wochen präsentierte. Gelegentlich brach ein Sonnenstrahl hindurch — die vorherrschende Farbe aber war grau.

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Es steht nirgends geschrieben, daß Sprache und Nation identisch sein müssen. Die Deutschschweizer sind ebensowenig Deutsche wie die Belgier Franzosen sind — von Engländern und Amerikanern ganz zu schweigen. Sprachverwandte ersten und zweiten Grades hegen aber doch Gefühle besonderer Art füreinander. Kulturelle und historische Gemeinsamkeiten wirken oft stärker als die gegenwärtige Politik. Eben dies will die DDR neuerdings mit aller Macht unterbinden. Noch beharrt die offizielle Bonner Politik darauf, daß es Beziehungen besonderer Art seien, mit denen sie ihr Verhältnis zur DDR ordnet — das erste, beliebige Gespräch mit einem Offiziellen dieses

Landes zerstört solche Illusionen. Deutsche an einen Tisch — das ragt als peinlich empfundenes Relikt aus der Ullbricht-Ära in die Gegenwart und wird stückweise zerstört. Seit Januar tragen die Kraftfahrzeuge nicht mehr das verbindende „D“ als Auslandskennzeichen, sondern das Zeichen „DDR“. Post, Bahn, Verwaltung, Partei — alles bereitet sich darauf vor, in Kürze seinen Namen ändern zu müssen.

Bonn weiß das. Noch mehr: seine Politik der Aufwertung gegenüber der DDR hat diese überhaupt erst in die Lage-versetzt, diesen Weg konsequent zu beschreiten und fortzusetzen. Nicht Adenauer, sondern Brandt ist daran schuld, daß die Deutschen in wahrscheinlich unabsehbar langer Zukunft nicht mehr an einen Tisch kommen. Zugespitzt formuliert: je näher sie auf den Verhandlungsstüh-

len beieinander sitzen, desto weniger ist es der gleiche Tisch, der vor ihnen steht. An die Stelle des Kalten Krieges, dessen Urheber ja viel weniger der Antikommunismus. des Westens, als der militante Kommunismus des Ostens war und ist, tritt die Friedhofsruhe nach der Schlacht. Die aber ist eindeutig von der DDR gewonnen worden.

Von der Zufälligkeit der gemeinsamen Sprache abgesehen, ist die DDR in der Tat weder deutsch noch demokratisch. Deutsch — das erinnert an Heiliges Römisches Reich deutscher Nation. Das erinnert, im Jahr, da sich Kants Geburtstag zum 250. Male jährt, an seinen kategorischen Imperativ. Demokratisch — das ist leichter zu begreifen, wenn man nur einen Tag nach dem Verlassen der DDR wieder in der Bundesrepublik Deutschland ist. Nicht nur die DDR feiert jetzt ihren 25. Geburtstag, auch die Bundesrepublik sieht auf 25 Jahre ihres Grundgesetzes zurück. Einer Verfassung, die so freiheitlich ist, daß selbst ihre unentwegten Totengräber sich nicht entschließen können, den Bereich dieser Verfassung zu verlassen und sich bei denen anzusiedeln, die sie sehr fälschlich für ihre Freunde halten: in der DDR, dem konservativsten Establishment in Ost und West, dem riesigsten Kindergarten neben Maos Reich.

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Alle Macht geht vom Volke aus. So definierte es die Weimarer Republik, trotz ihres betont sozialistischen Anspruchs ein durch und durch demokratischer Staat. Alle Macht ist in den Händen der Arbeiterklasse. Das behauptet die DDR. Noch nie in der Geschichte Europas, selbst in ihren dunkelsten Stunden nicht, ist die Ohnmacht der Machtlosen derart in eine Teilhabe an der Macht umgelogen worden. Wer gehört zu dieser Arbeiterklasse? Jener Mann, der auf dem Marktplatz einer mitteldeutschen Stadt dem Besucher neben dessen Wagen unaufgefordert die Bitterkeit eines schlechtbezahlten, durch immer neue Solidaritätskund-gebunden in Atem gehaltenen Arbeiters auflud? Oder der Automechani-ker, der es kaum fassen kann, daß nicht zwanzig und mehr Bruttogehälter für einen Mittelklassewagen zu erlegen sind, sondern nur deren Bruchteil?

Die Arbeiterklasse — das ist in Wirklichkeit jene Neue Klasse, die Milovan Djilas beschrieben und Söl-schenizyn erneut bloßgestellt hat.

Ihnen geht nichts ab. Der Beuftragte des Bezirkes, zum Aushorchen des Besuchers bestellt, erwähnt beiläufig, er habe seiner Frau zu Ostern tausend Mark geschenkt — fast das Doppelte des Gehaltes eines Normalbürgers. In Lützen, wo der Schwedenkönig Gustav-Adolf im Jahre 1632 fiel, hat man eine würdige Gedenkstätte errichtet. Angeregt und furchtlos unterhalten sich die Besucher. Plötzlich eisiges Schweigen: eine Kolonne russischer Staatslimou-

sinen mit Funktionären aus Ostberlin ist angekommen und die Arbeiterklasse hat den Raum betreten.

Westen — das ist nach DDR-Leseart Tummelplatz rücksichtsloser Machtentfaltung der Bosse. DDR — das ist nach allen Erfahrungen seiner Bürger das Paradies der Bonzen und nicht der Werktätigen. Das ist aber auch, wie der Augenschein immer wieder lehrt, ein Naturschutzpark des rücksichtslosen Militarismus. Martin Niemöller, - der ein gut Teil Schuld an der Verharmlosung der DDR trägt, behauptete einmal, auf Hunderten von Kilometern keinem sowjetischen Soldaten begegnet zu sein. Man hatte wohl die Ankunft dieses staatlichen Ehrengastes sorgfältig vorbereitet. Der Besucher aus dem Westen, im Frühjahr 1974, hat selbst in der Nähe amerikanischer Truppenübungsplätze nicht eine gleiche Massierung von Militärfahrzeugen aller Kategorien — Spähwagen, Panzer, Geschütze und Versorgungswagen — erlebt, wie jetzt in der

DDR. Weit überwiegend sowjetische Truppen, die Nationale Volksarmee ist fast unsichtbar. Die Wälder sind auf Dutzende von Kilometern unibe-tretbar, überall warnen viersprachige Schilder die Angehörigen fremder Militärmissionen vor dem Betreten.

Kaum irgendeine mittlere Stadt, die nicht sowjetische Kasernen hat. Offiziere und Unteroffiziere gehören so selbstverständlich zum Straßenbild, daß es niemandem mehr auffällt. Der Unterschied zur CSSR und

zu Ungarn, wo sich die Sowjets diskret im Hintergrund halten, ist überwältigend. DDR-Bewohner, die in der Sowjetunion waren, behaupten, nicht einmal dort soviel Militär gesehen zu haben. Dies ist eine tödliche Speerspitze des Warschauer Pakts gegen die NATO und der eklatanteste Gegenbeweis gegen die angebliche Friedensliebe Moskaus, aber auch der sicherste Beweis dafür, wie wenig man auf die Karte der vielzitier-ten Brüderlichkeit mit den Ostberliner Machthabern in Wirklichkeit setzt.

Damit erweist sich am nachhaltigsten, wie wenig die eigentlichen Machtverältnisse der proklamierten Theorie entsprechen. Jeder handelt aus Angst und Unsicherheit. Die Bürger scheuen neuerdings zunehmend Westkontakte, um sich nicht Repressalien des SSD auszusetzen. Die Funktionäre überbieten sich in Devotion gegenüber Moskau — und dieses wiederum traut weder seinen Vasallen noch seinen eigenen Politi-

kern, die in der Welt für gutes Wetter gegenüber der UdSSR erfolgreich sorgen.

Man kann in der DDR niemals die Orientierung verlieren. Selbst bei bedecktem Himmel genügt ein Blick auf die Dächer und man weiß, wo Westen ist — die Fernsehantennen zeigen es einträchtig an. Die Infiltration durch das eigene Programm geht selbst jenen, die ihren Staat schüchtern loben — wegen seiner Bildungs- oder Sozialpolitik etwa — auf die Nerven. Vor allem suchen sie Information, ohne die nicht nur das politische Bewußtsein, sondern auch das kulturelle Gewissen — zu dem ja auch immer eine gute Portion Wissen gehört — verlorengeht. Es gibt selbstredend keine Erhebung über die Auswirkungen dieses durch Radio und Fernsehen genährten Wissens, dieser ständigen Kommunikation mit dem Westen mittels der nicht gedruckten Kommunikationsmittel. Sicher ist aber, daß deren Rolle gar nicht zu überschätzen ist. Das gilt nicht zuletzt für die Sendungen des Deutschlandfunks, dessen Spurenelementen man in der DDR auf Schritt und Tritt begegnet.

Nur so konnten die Menschen in diesem Land bisher einschließlich der nachgewachsenen Generation im europäischen Kulturverband bleiben. Ihre eigene Geschichte beginnt unbarmherzig und orthodox mit dem Sieg der Arbeiter- und Bauernklasse. Was vorher war — man werfe nur etwa einen Blick in die „Deutsche Literaturgeschichte“ der DDR — ist entweder ahnungsvoll oder absichtslos Vorläufer. Gottfried Keller etwa wird dieses Prädikat zuteil, aber auch Beethoven widerfährt die gleiche Ehre. Meist jedoch lautet das

Verdikt: ohne Klassenbewußtsein. Schlimmer ist, daß die Herkunft aus dem Geschichts- und Kulturverband des christlichen Abendlands, seinen Höhen und Tiefen, strikt unterschlagen wird. Kein Land des Ostblocks hat sich so gründlich seiner Geschichte und Kultur entledigt.

Wer sich auf die Suche nach Deutschland in der DDR macht, muß sich mit einer mageren Ausbeute zufriedengeben. Er findet Deutsche ohne Deutschland, Landsleute ohne Vaterland, auch Christen ohne große Zuversicht. Er findet Menschen, denen man die 25jährige systematische Entfremdung nicht anmerkt und einige, wenn auch herzlich wenige, die eine andere Sprache gelernt haben. Uberwiegend begegnet man ihnen noch immer als den Vertretern jenes Deutschlands, dem man sich nun nur noch heimlich zugehörig fühlen kann und auf dessen politische Reife den Vertretern man für die Zukunft entscheidend setzt.

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