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„Eine Frau - den Mond zu ihren Füßen...“

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Vor zehn Jahren, unmittelbar nach der zweiten Mondlandung, wurden Passanten für eine Hörfunksendung befragt:

„Woran denken Sie, wenn Sie den Satz hören: ,Den Mond zu ihren Füßen.' “ Die Antworten zielten fast durchwegs auf die Astronauten. Das ist verständlich. Bis zur ersten Mondumkreisung, bis zur Mondlandung, konnte man sich nichts anderes vorstellen, als den Mond über sich zu wissen. Jetzt gab es plötzlich Menschen, die den Mond zu ihren Füßen erlebt hatten. Man identifizierte sich mit diesen Astronauten, man fühlte sich bereits als Herr über das Weltall.

Aber auch damals lautete eine der Antworten auf die Frage des Reporters: „Den Mond zu ihren Füßen? Wir denken dabei an die Muttergottes, an die Immaculata.“

Die apokalyptischen Bilder des „Sehers von Patmos“ behalten ihre Aussagekraft. Mitten hinein in die Schreckensvisionen stellt Johannes das „große Zeichen“:

„Und es erschien am Himmel ein großes Zeichen: eine Frau, umkleidet mit der Sonne, den Mond zu ihren Füßen und auf ihrem Haupt ein Kranz von zwölf Sternen.“

Jahrhunderte hindurch sah man in diesem apokalyptischen Weib die Gottesmutter Maria; heute neigt die Theologie dazu, es als Bild für die Kirche zu interpretieren. Aber die beiden Deutungen stehen in keinem

Gegensatz zueinander, wenn das Konzil Maria als „Urbild der Kirche“ bezeichnet. Volksfrömmigkeit und Kunst haben sich längst dieses Bildes bemächtigt.

Das Leben der Muttergottes, wie es in den Evangelien skizziert und in Legenden ausgeschmückt wurde, bietet viele Gestaltungsmöglichkeiten. Von den ersten nachchristlichen Jahrhunderten bis in die Gegenwart sucht und findet die Phantasie immer neue Blickpunkte in der Sicht der Gottesmutter.

Die Mannigfaltigkeit ostkirchlicher Ikonen bietet eine Fülle mariologischer Aussagen an, die Maria als Wegweisende und Fürbittende verehrt. Das reale Geschehen steht im Hintergrund, immer wird in Maria mehr als ein Sinnbild für die Mütterlichkeit gesehen. Es geht nicht in erster Linie um die Beziehung zwischen Mutter und Kind, sondern um die Beziehung des göttlichen Kindes durch die Mutter zu den Menschen.

In der Kunst des Westens schmük-ken liebevolle Detaüs das Geschehen der Verkündigung, der Geburt, der Kindheit Jesu. Das Bild der Schmerzensmutter, die Pietä, bringt in ergreifender Anteilnahme das Wort des Alten Testaments zum Ausdruck: „Seht, ob ein Schmerz gleich ist meinem Schmerze.“

Die Zeitumstände tragen ebenso wie die Stilrichtung und die Individualität des Künstlers dazu bei, welches Geschehen besonders hervorgehoben wird, welcher Aspekt im Mittelpunkt steht. Besonders deutlich drückt sich der Geist einer Epoche in der Rolle aus, die der Gottesmutter in ihrem Verhältnis zum Menschen und zur gesamten Schöpfung zugeschrieben wird.

Jede Zeit sucht nach einem Ausdruck für die Probleme, mit denen sie fertig zu werden hat, und häufig wird die Vorstellung von der Gottesmutter mit diesen Problemen verquickt.

Das Mittelalter ist erfüllt von besonders inniger Marienverehrung, die ihren Niederschlag in allen Kunstgattungen findet. Die Menschen in ihrem Ausgeliefertsein an Krankheiten, Hungersnot, Naturgewalten und Kriegen suchen Schutz durch die mächtige Fürbitte Mariens. Die Schutzmantelmadonna verschafft diesem Gefühl Geltung.

Auch an der Wende zur Neuzeit brauchen die Menschen einen festen Halt. Damals schien mit dem Ptole-mäischen Weltsystem die ganze Erde ins Wanken geraten. Wenn die Erde nicht mehr Mittelpunkt des Weltalls sein sollte, was hatte dann noch Bestand? Uberall brach Neues herein, und es war nicht abzusehen, was noch daraus entstehen würde. Ein neuer Erdteil war entdeckt worden, die Einheit des christlichen Abendlandes war zerrissen - alles, was fest verankert geschienen hatte, wurde unsicher.

Gerade in dieser Zeit wurde ein neues Marienbüd geschaffen. Gerade in dieser Zeit entdeckte die Kunst die Beziehung der Gottesmutter zum Bild der Apokalypse neu und umkleidete Maria mit Sonne, Mond und Sternenkranz. Die Menschen wollen sich wieder zurechtfinden auf dieser Erde, die größer geworden ist durch bisher unbekannte Länder und Meere und die zugleich kleiner geworden ist im gewaltigen Kosmos, dessen Mittelpunkt sie nicht mehr ist.

Als Sinnbild der Geborgenheit in dieser neuen Welt genügt die menschlich warme Schutzmantelmadonna nicht mehr, es genügt nicht die Gestalt der Mutter im bürgerlichen Heim, wie die Renaissancemaler Maria gerne dargestellt haben. Zuflucht kann jetzt die Frau bieten, die über den Gestirnen steht, die als gewaltiges Zeichen verheißen wurde.

Auch in dem Erdteil, der eben erst entdeckt, der eben erst mit dem Christentum in Berührung gekommen war, wurde die Muttergottes verehrt. Das mexikanische Nationalheiligtum Guadelupe gründet sich auf eine Marienerscheinung: Die Muttergottes war einem armen Indio erschienen, hatte als Beweis gegen das Mißtrauen des Bischofs Rosen erblühen lassen und ihr Bild dem Tuch eingeprägt, mit dem der Indio die Rosen zum Bischof brachte. Dieses Büd, das als „Madonna von Guadelupe“ weit über die Grenzen Mexikos verehrt wird - eine Kopie ist in der Votivkirche in Wien aufgestellt -, zeigt Maria im Strahlenkranz, den Mond zu ihren Füßen. So scheint es, daß gerade in dieser Zeit, zu Beginn des 16. Jahrhunderts, eine innere Notwendigkeit zu diesem Bild geführt hat.

Die Menschen des Barock haben sich an das neue Weltbild akklimatisiert. Es macht ihnen kein Kopfzerbrechen mehr, daß die Erde ein Stern unter anderen ist, daß sie sich um die Sonne dreht und nicht umgekehrt. Sie haben sich längst daran gewöhnt, daß die Erde eine Kugel ist. Und sie legen diese Weltkugel der Madonna zu Füßen.

Die barocke Mariendarstellung, wie wir sie immer wieder auf den Straßen und Plätzen unseres Kulturkreises finden, verbindet das große Zeichen der Frau aus der Apokalypse mit der Verheißung des Proto-Evan-geliums - der Genesis, dem Fluch über die Schlange:

„Feindschaft will ich setzen zwischen dir und dem Weibe, zwischen deiner und ihrer Nachkommenschaft. Sie wird dir den Kopf zermalmen, und du wirst sie an der Ferse treffen.“

Maria wird jetzt als die Frau erkannt, die am Anfang der Welt verheißen wurde und die am Ende als gewaltiges Zeichen am Himmel stehen wird. Auf der Weltkugel stehend, die von der Schlange umschlungen ist, sieht nun das 17. Jahrhundert die Immaculata, die Makellose. Zu ihren Füßen hegt die Sichel des Mondes, den Heiligenschein bildet der Sternenkranz. Viele Mariensäulen wurden als Dank aufgestellt, als Dank für das Ende der Pest, für die Uberwindung der Türkengefahr. Auch der Halbmond des Islam konnte nichts gegen die Gottesmutter ausrichten, auch dieser Halbmond lag zu ihren Füßen. Im Büd der Immaculata fand das wieder erwachte Lebensbewußtsein und die Sinnenfreude des Barock seinen entsprechenden Ausdruck.

Wo ist heute das Bild, das hilft, sich in der Welt der Gegenwart zurechtzufinden? In der Welt von heute, die kleiner geworden ist durch die modernen Mittel des Verkehrs und der Information und die größer geworden ist durch die Einbeziehung des Weltalls. Vor hundert Jahren fühlte man sich noch sehr sicher auf dieser Erde, man war von den neuen Errungenschaften der Technik und der Naturwissenschaften fasziniert. Es schien nur eine Frage der Zeit, wann das Paradies auf Erden verwirklicht werden würde, aus dem kein Engel mit dem Flammenschwert die Menschheit vertreiben könnte.

Das 20. Jahrhundert hat die kühnsten Utopien verwirklicht und pervertiert. Die Maschine, erdacht, um dem Menschen zu dienen, wird vom Menschen bedient. Der Griff nach den Stemen ist gelungen und hat die Angst vor den künstlichen Satelliten im Gefolge. Die Medizin kann das Leben der Menschen verlängern und glaubt, der Überbevölkerung auf Erden durch Tötung Ungeborener Herr werden zu müssen. Die Technik ist perfektioniert und bringt die Verschmutzung der Umwelt mit sich, eine Menschheitsplage apokalyptischen Ausmaßes. So hat unser Jahrhundert trotz - oder wegen - des immer rascher werdenden menschlichen Fortschritts auch die Angst wieder zurückgebracht. Die Angst vor der Lawine der Technisierung, die dem Menschen die Möglichkeiten in die Hand gibt, das Leben auf dieser Erde auszulöschen.

Um der Angst zu entfliehen, wird eine ungeheure Vergnügungsindustrie aufgeboten; um der Angst zu entfliehen, flüchtet man in die Irrealität von Schlagworten und Suchtgiften. Das Erwachen nach der Flucht in eine Scheinwelt wird immer trostloser. Flucht hat nur Sinn, wenn sie dort endet, wo Zuflucht angeboten wird.

Gilt für heute die ürkreatürliche Geste nicht mehr, bei der Mutter Schutz zu suchen? Ist das Ideal der Mutter wie das der Jungfrau so sehr abgewertet? Ist unsere Zeit unfähig, ein Büd der Zuflucht zu schaffen, das zum Sinnbild werden kann. Ein Büd Mariens für unsere Zeit, ein Büd der Mutter des Gottessohnes, der Mutter der Menschen, der Mutter aller Völker, der Mutter des Weltalls. Ein Gleichnis für die Brüderlichkeit aller Menschen, über alle Gegensätze hinweg.

Das Symbol für das friedliche Miteinander der Länder Europas ist die Europaflagge. Sie zeigt zwölf Sterne auf blauem Grund. Als dieses Symbol nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen wurde, wählte Graf Cou-denhove-Kalerghi, der Gründer und erste Präsident der Pan-Euro-pa-Union, bewußt den Sternenkranz der Gottesmutter, der die Sterne der Machtblöcke überstrahlen soll.

Der Rausch der Begeisterung für die Weltraumforschung ist verflogen, wir sehen heute wieder mehr die Probleme auf unserer Erde. Der Traum von einem geeinten Europa ist noch nicht Realität, aber die Hoffnung ist stärker geworden. Wir sind nicht mehr davon fasziniert, den Mond zu Füßen der Menschen zu erleben. Vielleicht kann aus den zwölf Sternen ein Schutzmantel für unsere Zeit auf unserer Erde entstehen?

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