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Eine ganz gewöhnliche Talfahrt

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Europaweit herrscht Krisenstimmung, der wirtschaftliche Aufschwung bleibt immer noch aus. Ist der derzeitige Abschwung mehr als nur ein normaler Tiefpunkt im Konjunkturzyklus? Könnte unser Wohlstand auch ohne Wachstum aufrechterhalten bleiben, wie jeder dritte Österreicher laut Meinungsumfrage meint?

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Europaweit herrscht Krisenstimmung, der wirtschaftliche Aufschwung bleibt immer noch aus. Ist der derzeitige Abschwung mehr als nur ein normaler Tiefpunkt im Konjunkturzyklus? Könnte unser Wohlstand auch ohne Wachstum aufrechterhalten bleiben, wie jeder dritte Österreicher laut Meinungsumfrage meint?

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Wenn die Deutschen bellen, muß Österreichs Wirtschaft mit dem Schwanz wedeln, heißt es. Derzeit herrscht Krisenstimmung beim Nachbarn und auch uns beschleicht allmählich ein mulmiges Gefühl. Franz Ceska, Generalsekretär der Industriellenvereinigung, warnte kürzlich vor dem Verlust Tausender Arbeitsplätze durch das schwache Wirtschaftswachstum in Deutschland.

Im Grunde weiß auch niemand, wie es mit der Entwicklung der Weltkonjunktur weitergehen wird, dozierte kürzlich die Schweizer „Weltwoche".

Wie sieht das Erich Streissler, Wirtschaftswissenschaftler und seit vielen Jahren als Prognostiker bewährt? „Es wird nicht viel anders weitergehen als bisher." Schaut man sich die Entwicklung an, so ist der derzeitige Abschwung nichts Ungewöhnliches.

Im Lauf der letzten 25 Jahre hatten wir 1967 eine schwere Rezession. Der Aufschwung danach dauerte nahezu acht Jahre, die nächste Krise kam erst 1975. Danach beschleunigte sich der Zyklus: die nächsten Krisen folgten 1981 und 1986. Alle fünf bis acht Jahre kann man also mit einem Konjunkturrückgang rechnen - und wenn er dann eintritt, ist das kein Grund zur Überraschung oder gar Katastrophenstimmung. (Überdies ging die Wachstumsrate in Österreich nie auf unter Null zurück; und auch für 1993 erwarten die Wirtschaftsforscher ein Plus von zwei Prozent.) „So gesehen ist der Abschwung schon wieder fällig. Meiner Meinung nach ist an der derzeitigen Konjunkturentwicklung nichts Außergewöhnliches", faßt es Streissler zusammen.

Null-Wachstum schwächt Wirtschaft

Aber die Sache hat noch eine andere Seite. Soll man denn, so fragen jetzt wieder viele Österreicher, überhaupt noch auf Wachstum setzen? Streissler: „Ich glaube, die Leute können nicht abschätzen, was das heißt." „Null-Wachstum" bedeutet in Wirklichkeit ja nicht, daß alles so schön bleibt wie letztes (oder dieses) Jahr; das sei eine laienhafte Vorstellung. In Wirklichkeit bedeutet Stagnation „absolute Krise" und „schwere Rezession". Am ärgsten ist es, wenn das Wachstum bei den Nachbarländern positive Raten aufweist -dann kommt es nämlich zum „brain-drain" (Abwanderung) und zu einer zusätzlichen Schwächung der heimischen Wirtschaft. Abgesehen davon hatte eine Wachstumsschwäche immer auch politische Auswirkungen. Die Jahre 1980 bis 1985 brachten die Krise der Verstaatlichten und einen massiven Vertrauensverlust in die Politiker.

Trotzdem ist die heutige wirtschaftliche Lage, so Streissler, eine andere als damals: Grund zur Sorge geben in der jetzigen Situation folgende Entwicklungen:

1. Deutschland ist keine Wirtschaftslokomotive mehr, die andere Länder mitzieht. Die

Sanierung des Ostens stellt Bonns Steuerpläne auf den Kopf (Gottseidank, meint Streissler, denn ihre Finanzierung über neue Steuern ist solider als die über bloße Schuldenaufnahme).

Wird Deutschland aber mehr und mehr zum Hochsteuerland, dann haben es die Unternehmer zunehmend schwerer. Und so lange sich die Währungspolitik (und damit das Zinsniveau) anderer Staaten an der starken D-Mark orientiert, muß der Rest der Welt über das . hohe Zinsniveau an den Kosten mittragen. Das wirkt auch in den betreffenden Ländern investitionsdämpfend.

Bis 1989 waren die Deutschen so stark, daß sie einen Leistungsbilanzüberschuß von 100 Milliarden DM pro Jahr verzeichnen konnten. Heute haben sie ein Leistungsbilanzdefizit von 30 Milliarden. Die Differenz von 130 Milliarden wirkt sich natürlich entsprechend negativ aus. Das Budgetdefizit der Regierung Kohl liegt heuer - wenn man Bund, Länder, Gemeinden und die Treuhand miteinbezieht -bei sieben Prozent des Sozialproduktes (1990 waren es 2,5 und 1991 3,7 Prozent, die „Europareife" für die Maastrichter Währungsunion liegt bei maximal drei Prozent).

Neues Billiglohnland an der Grenze

Der deutsche Wachstumsrückgang auf ein bis eineinhalb Prozent ist allerdings harmlos, wenn man ihn mit dem Rückgang des Sozialproduktes in den Oststaaten vergleicht (15 bis 20 Prozent pro Jahr!).

2. Die „Ostöffnung", in Österreich lange genug nur als Exportchance wahrgenommen, macht allen Industrieländern Europas große Sorgen: drüben sind die Produktionskosten -vor allem die Löhne - weit niedriger und die Freihandelsabkommen zwischen West und Ost öffnen die Märkte für billigere Waren. Die Stahlindustrie zum Beispiel schwimmt geradezu nach Osten ab. Auch auch T-Shirts sind konkurrenzlos billiger: die Erzeugung kostet in Ungarn weniger als in Thailand.

Noch in den sechziger und siebziger Jahren konnte Österreich gegenüber den industriellen Kerngebieten (von Rhein und Ruhr bis Mailand) die Vorteile des Billiglohnlandes nutzen. Als sich das änderte und sich die Alpenrepublik auch westlichen Wohlstand leistete, strengten sich die Unternehmer an, trotzdem im Westen konkurrenzfähig zu bleiben. Es gab beachtliche Strukturanpassungen im „exponierten Sektor", der dem rauhen Wind des Freihandels mit der EG ausgesetzt war.

Seit 1990 ist das anders, weil die Freihandel sregelungen erst langsam wirksam werden. Wir müssen uns selbst gegenüber Billigbietern wettbewerbsfähig machen; alle arbeitsintensiven Branchen mit wenig qualifiziertem Personal haben es schwer, im Spiel zu bleiben. Entweder sie verlagern die Produktion nach drüben, oder sie nehmen billige Arbeitskräfte herein. Wirklich billig sind natürlich nur die Schwarzarbeiter; die Versuchung ist groß, der Protest der Interessenvertreter verständlich.

3. In der wirtschaftlichen Entwicklung entscheidet aber auch die Stimmung: Das Vertrauen in die Politiker und in die Sozialpartner ist geringer geworden. Streissler stellt der Regierung indessen ein positives Zeugnis aus: Erstens betreibe man ein gutes Krisenmanagement, statt den Kopf in den Sand zu stecken. Zweitens sei man bereit, die Dinge gemeinsam anzupacken. Das sei, verglichen mit der Lage anderswo, erfreulich. Ein deutliches Zeichen sei die „echte" Sanierungsbemühung in der Budgetpolitik. Die Defizitsenkung erfolgt so, daß sie nicht zur Überbelastung und Strangulierung der Wirtschaft führt, und zwar über die Erhöhung der Kapitalertragsteuer und andere Abgaben.

Aber das schafft nur vorübergehend Luft und bedeutet noch nicht die auf Dauer ausreichende Antwort auf die neuen Herausforderungen wie die steigende Zahl der Arbeitslosen. Eine Konjunkturspritze durch ein staatliches Beschäftigungsprogramm wäre der falsche Weg, warnt Streissler. Sie würde nur zu höheren Budgetdefiziten und damit zu einer Herabsetzung unserer Kreditwürdigkeit führen.

In Österreich hat noch kein Politiker die „Stunde der Wahrheit" proklamiert. Kommen wird sie wohl auch für uns. Erich Streisslers Rat ist klar: Ruhig Blut bewahren und das Notwendige tun.

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