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„Eine gewisse kulturelle Lähmung"

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Die Zukunft Prags war Thema eines von CSFR-Präsident Vaclav Havel vom 19. bis 22. April initiierten Workshops europäischer Architekten in der tsche-cho-slowakischen Hauptstadt. In einem Exklusivgespräch am Rande dieser Veranstaltung wurde der Dichter-Präsident mit Fragen nach der Identität Prags und der neuen Tschecho-SIowakei konfrontiert.

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Die Zukunft Prags war Thema eines von CSFR-Präsident Vaclav Havel vom 19. bis 22. April initiierten Workshops europäischer Architekten in der tsche-cho-slowakischen Hauptstadt. In einem Exklusivgespräch am Rande dieser Veranstaltung wurde der Dichter-Präsident mit Fragen nach der Identität Prags und der neuen Tschecho-SIowakei konfrontiert.

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FURCHE: Welche Städte sollten die geistigen Hauptpartner Prags sein?

PRÄSIDENT VACLAV HAVEL: In jedem Fall hat Prag weniger geographische und geistige Nähe zu Wien als Brno oder Bratislava. Beziehungen wurden immer zu München und natürlich zu Berlin gepflegt. Wie das in Zukunft sein wird, das hängt von den komplexen zivilisatorischen Prozessen gegenüber Europa und von der Entwicklung unseres Landes ab. Es geht auch um ganz konkrete Sachen wie den Verkehr. Nach dem Krieg wollte man in Prag ein Luftkreuz errichten. Hätte die Tschecho-SIowakei am Marshall-Plan mitgemacht und hätte es keinen Kommunisten-Putsch gegeben, wäre aus diesem Knoten etwas geworden. So aber kam Frankfurt zum Zug. In Prag überlegt man jetzt, noch einen neuen Flughafen zu bauen. Aber die Chance, daß daraus ein europäisches Luftkreuz wird, ist wohl vorbei.

FURCHE: Mit den reifen europäischen Zentren wird Prag schwer in Konkurren: treten können. Aber es scheint, daß es hier ein Faszinationserbe gibt, beispielsweise die tschechisch-deutsch-jüdische Literatur,die dadurch authentisch war, daßNicht-hchechen für die Tschechen Prag entdeckt haben.

HAVEL: Die jüdische Kultur, die bei uns noch in der Zwischenkriegszeit blühte, die sich wahrscheinlich so nicht mehr erneuern läßt, gehört leider der Vergangenheit an. Zwar hat die hiesige jüdische Gemeinde alle Möglichkeiten, wenn es um kulturelle Angelegenheiten geht, die sie während der Kommunistenzeit nicht hatte, aber diese Ära der Prager Mul-tikultur kommt wahrscheinlich nicht mehr zurück. Aber sie kann auf eine andere Art wiederkommen: Nämlich dadurch, daß sich Prag dem sich integrierenden Europa nach und nach in einem Maß öffnet, daß es wieder eine internationale europäische Stadt wird wie Straßburg oder Brüssel.

FURCHE: Eine verlorene Chance der Internationalisierung kann man im Umgang der Tschechen mit den in der Kommunistenära zu Tausenden ins Land geholten Vietnamesen sehen.

HAVEL: Das ist wahr. Das ist aber trauriges Erbe des Kommunismus und der Unmoral des bürgerlichen Bewußtseins. Da gibt es eine Angst vor Ausländem, Mißtrauen gegenüber den Fremden, Widerstand ihnen gegenüber, ein gehobenes Gefühl des Andersseins. Wir können das am Widerstand gegenüber den rumänischen Flüchtlingen, an Konflikten mit den Zigeunern und mit den Vietnamesen und an der Angst vor den Sudetendeutschen sehen.

Ich war vor kurzem in der Tatra und habe dort die Furcht der bodenständigen Bevölkerung in Stary Smokovec vor amerikanischen Firmen kennengelernt, die angeblich mit „den Negern", die hierherkommen, wenn Amerikaner beispielsweisse ein Hotel übernehmen, die Einheimischen von ihren Stellen verjagen. In der Slowakei ist das noch stärker als hier bei uns und es ist auch historisch verständlich, weil die Slowaken solange von den Ungarn niedergehalten wurden und sich nachher von den Tschechen unterdrückt fühlten.

Wenn ich von Internationalisierung spreche, dann denke ich an New

York. Ich glaube nicht, daß Prag ein europäisches New York sein könnte, aber New York ist doch wirklich ein Basar der Welt. Dort sind absolut alle Nationalitäten vertreten. Dort kann man sich nicht als Emigrant fühlen. In Wien oder München schon.

Vor einigen Tagen waren wir in London. Und bei einem langen Spaziergang haben wir bemerkt, wieviele farbige Mitbürger es dort gibt. Wenn wir auch aus Zeitungen von sozialen Spannungen üntl Immigrationsbe-.schränkungen wissen, im normalen Leben konnte man eine für unsere Verhältnisse fast unbegreifbare Toleranz bemerken.

FURCHE: Wenn Prag städtebaulich und geistig geheilt ist. wird das auch zu einer Heilung der Bevölkerung, zu zunehmender Toleranz führen?

HAVEL: Früher war um die Stadt ein Burggraben, man wußte, wo die Stadt endet. Heute schauen die Städte aus dem Flugzeug wie Krebsgeschwüre in der Landschaft aus. Ich selbst habe aus der Luft beobachtet, welch riesige Fläche Groß-Prags unverbaut ist. Da sind halb Fabrikhöfe, halb Halden. Ich würde das Nichts nennen. Man könnte dort Häuser bauen oder Parks anlegen. Warum es dort Nichts geben soll, begreife ich nicht.

FURCHE: Gibt es zu diesem Nichts in der Stadt auch ein geistiges Nichts?

HAVEL: Wir haben hier noch ein Problem. Prag und überhaupt die gesamte Tschecho-SIowakei werden noch einige Jahre den Schock der Freiheit erleben. Wir müssen wieder unsere geistige Identität suchen. Bis vor kurzem bestand diese im indirekten Widerstand gegenüber der totalitären Macht. Jetzt wurde diese niedergerissen - und wir sehen, wie die Künstler jetzt entgleist sind. Nach unserer Revolution ist kein herausragendes künstlerisches Werk mehr entstanden, das sie reflektiert hätte. Wir bemerken eine gewisse kulturelle Lähmung, den geistigen Zustand des Schocks.

FURCHE: Künstler erfüllen den

Freiheitsraum nicht mit etwas Authentischem, sondern mit etwas Importiertem. Man spricht von Prag als der Sektenhauptstadt Europas. Aber leider entwickeln diese kaum etwas aus dem genius loci, wie das früher Juden, Deutsche oder Italiener verstanden.

HAVEL: An und für sich ist das nichts Schlechtes. Das ist eine Grundlage der geistigen Buntheit der Stadt. Faktum ist, daß sich diese Gemeinschaften stark nur an sich selbst orientieren. Das ist noch ein Rest der totalitären Ära, als jede Gemeinschaft geistlichen Prinzips verboten war. Und sie sind alle ein bißchen Verschwörer geblieben, das haftet ihnen noch an.

Eine ander Sache ist die des Imports. Wir sehen, wie verbotene Früchte schrecklich gut schmecken. Und die Leute wollen am liebsten, daß jedes zweite Geschäft ein Sex-Shop wird. Auf einmal stürzen sie sich alle auf diese auffälligen und sichtbaren Seiten des westlichen Lebens. Und viele importieren das teilweise aus kommerziellen Gründen, weil es sich gut verkauft, teilweise aber auch aus dem unterbewußten und falschen Gefühl, daß man mit dem Import der Dinge der entwickelten freien Gesellschaften auch die freie Gesellschaft importiert.

Auf der einen Seite steht also ein rasender Import und auf der anderen besteht noch immereine durchgängige Xenophobie. Wir zum Beispiel hier auf dem Hradschin denken darüber nach, daß es hier eine spanische Gastfreundschaft geben sollte, wie es immer war, daß hier italienische Eisverkäufer auftreten sollten, daß alles ein bißchen internationalisiert werden sollte.

Der Hradschin ist nicht Ergebnis der Arbeit tschechischer Hände, er ist ein internationales Produkt. Trotzdem gibt es hier solche Widersprüche wie: „Die" wollen uns unsere Burg nehmen, „die" wollen sie den bösen Ausländem verkaufen.

Es sollte doch eine Ehre sein, daß ein Weltarchitekt hier etwas baut oder rekonstruiert.

FURCHE: Es ist eben nicht leicht, tolerant zu werden und gleichzeitig sich selbst finden zu müssen.

HAVEL: Wer sich seiner Identität bewußt ist, der hat ein natürliches Selbstbewußtsein, der braucht sich vor fremdem Einfluß nicht zu fürchten, der kann sich auch zueigen machen, was ihm zufällt.

Mit dem Präsidenten der Tschecho-SIowakei. Vaclav Havel, sprach Bohuslav Blazek.

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