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Eine Insel beweist ihr Leben

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Es ist ebensowenig sinnvoll wie auch allmählich durch die oftmalige Wiederholung langweilig geworden, über die Bedeutung der sich von Jahr zu Jahr vermehrenden Filmfestspiele — erst recht angesichts der gegenwärtigen internationalen Filmkunstkrise und der immer stärker werdenden Verindustrialisierung und Verkommerzialisierung der Filmproduktion — Klage zu führen; auch wieweit die Filmfestspiele in Berlin heute noch Wichtigkeit besitzen —, nämlich im politischen Sinn, als Demonstrationszeigefinger einer eingeschlossenen Insel —, auch diese Überlegungen anzustellen, ist ziemlich müßig. Dennoch sollte man auch heute noch darauf hinweisen, denn auch im Jahr der ost-westdeutschen Entspannung, der Verträge zwischen den beiden deutschen Staaten, ist die Lage Berlins selbst keineswegs wesentlich besser geworden und die Zukunft rosiger: West-Berlin ist noch immer die Insel, für die eine Lösung zu finden in naher Zukunft wohl keine befriedigende Antwort vorliegen wird und eine fernere Zukunft wohl nur wenig optimistische Prognosen erlaubt. Insoferne haben die Filmfestspiele wie alle kulturellen und sonstigen Veranstaltungen noch immer grundlegende Bedeutung (auf die angesichts der immer zögernder gewährten Subventionen nicht nachdrücklich genug hingewiesen werden kann!), selbst wenn Berlin als Austragungsort eines internationalen Filmwettbewerbes möglicherweise in den letzten Jahren etwas in den Hintergrund gedrängt wurde. Doch nun besitzen diese Festspiele eine echte, neue Chance: dadurch, daß — leider — Venedig mit seiner müßig und leichtsinnig zerstörten großen Mostra Cinematogra-flca, eine der schönsten, bedeutendsten und auch ältesten Veranstaltungen auf diesem Gebiet, als Konkurrent ausgeschieden ist, kann Berlin (auch filmmäßig) wieder aufholen und zum zweiten großen europäischen Filmfestival werden, wenn es nur die Verantwortlichen einsehen und verstehen, die Gelegenheit zu nützen.

Irgendwie zeigte sich davon bereits ein gewisser, keineswegs zufällig erwachsener Niederschlag: Andre Ca-yattes Agitationsfllm „Kein Rauch ohne Feuer“, eine starke politische Anklage mit Realitätsbezügen zu einer französischen Skandalaffäre und einer bestimmten juristischen Fragestellung, hätte durchaus in Venedig 1973 zu brillieren verstanden ... Und wenn der ebenso rührige wie tüchtige, unverständlicherweise stets mit großen Schwierigkeiten kämp-fen-müssende Festspielleiter Doktor Bauer zu Beginn in einem Interview sagte, das Programm sei heuer zweifellos stärker als im Vorjahr, dann muß man ihm im Endeffekt recht geben. Zweifellos lassen sich bei der diesjährigen Berlinale einige Schönheitsfehler entdecken — doch erstens, welches Filmfestival besäße diese nicht, und zweitens ist der positive Allgemeineindruck überwiegend.

Sicher, in mancher Hinsicht könnte der streng formalistische Kritiker einen gewissen Hang zum leichteren Ausweg, zu einer gewissen Unver-bindlichkeit und Nachgiebigkeit an einen allgemeinen Publikumsgeschmack (und gewisse industrielle Tendenzen) feststellen; warum der zwar sympathische, aber keineswegs künstlerisch irgendwie bedeutsame koreanische Beitrag „Lang lebe die Inselbande!“ im Wettbewerb zu sehen war, dürfte ebensowenig eine logische Begründung besitzen wie auch die Teilnahme des (für brasilianische Verhältnisse möglicherweise ungewohnt freizügigen) Sexualität-Problemfilms „Alle Nacktheit wird bestraft“ von Arnaldo Jabor. Doch wie gesagt, sind solche — wenigen — Außenseiter stets Anhängsel aller Festivals, erst recht, wenn sie um Internationalität bemüht sein wollen oder müssen.

Wenden wir uns daher lieber den Beispielen zu, die Berlins Filmfestspiele 1973 durchaus sehenswert machten — und da wird es angesichts des beschränkten Platzes kaum möglich sein, alles aufzuzählen; es sei daher gestattet, eine (sicher subjektive) Auswahl zu treffen, zumindest jene Filme vorzustellen, deren künstlerische Bedeutung über die einer einmaligen Aufführung im Rahmen von Filmfestspielen hinausgeht, deren Wichtigkeit eine Aufführung auch in den österreichischen Kinos rechtfertigt, ja verlangt. Und unter diesen sei an erster Stelle ein japanischer abendfüllender Zeichenfilm angeführt, dessen exotische Schönheit, dessen zeichnerisches Raffinement und dessen künstlerische Vollkommenheit wohl jeden Kenner der Geschichte des Zeichenfilms ebenso faszinieren wie jeden ästhetisch empfindenden und mit

Phantasie ausgestatteten Zuschauer zu begeistern imstande sein werden: „Belladonna“ des jungen Regisseurs Eiichi Yamamoto (wir kennen ihn als Mitarbeiter der hinreißenden

Persiflage „Cleopatra und die tollen Römer“) und seines begabten, in gewisser Weise genialen Zeichners Kuni Fukai. Nach dem 1862 erschienenen Roman „La Sorciere“ von Jules Michelet als aktuelle zeitkritische Aussage gestaltet, entfaltet der dynamisch erschreckende Film allen Rausch fernöstlicher und dabei allgemeingültiger Bildkunst: von mittelalterlich-gotischer Buchillustration über Beardsley und den Jugendstil bis zur psychedelischen Pop-Art sind unzählige Stile nahtlos miteinander verschmolzen zu einer einzigen Symphonie dämonischer Schönheit, voll erotischer Gewalt und grenzenloser Phantasie .., Wahrhaftig ein großer Film, der einmal Filmgeschichte sein wird, ein Film, über dessen subtilste Nuancen man ganze Seiten schreiben könnte — ein Film aber auch, der leider auf viele Mißverständnisse und Unverständnis stoßen wird, wie vieles wahrhaft Große...

Und wie thematisch grandios war der deutsche Beitrag des Juristen Norbert Kückelmann, eine spröde, ruhige, fast distanzierte Anklage gegen die heute noch immer auf Unverständnis, Mißtrauen und Ablehnung stoßende Haltung der Umwelt gegenüber den Individualisten, den sogenannten Außenseitern unserer Gesellschaft: „Die Sachverständigen“ — Juristen und Psychiater — nehmen sich nach einem (verständlichen) Aggressionsausbruch seiner an; das logische Ende ist die Zerstörung ... Wir sollten unbedingt diesen aufrüttelnden (und bei der Intoleranz Vieler sicher ebenfalls nicht verstandenen) Film in unseren Kinos sehen — wäre das nicht eine Aufgabe für die „Viennale 1974“?

Von welcher kritischen, fein beobachteten Bosheit und dabei filmischen Vollkommenheit war wieder Salvatore Samperis (erinnern wir uns an seine bestechende Studie „Grazie, zia“ oder bei uns „Des Teufels Seligkeit“) Analyse eines Vierzehnjährigen: „Malizia“; doch wer sieht schon gern eine so psychologisch fein erfaßte (Unbewußt? Angesichts des Alters des Regisseurs!) Durchleuchtung menschlicher Abgründe? Und in ein ähnliches Gebiet fällt auch Claude Chabrols neuestes Opus „Blutige Hochzeit“ — wieder wird das Problem des aus seinem Lebenskreis nicht entkommenkönnenden Bürgers, verstrickt in Konventionen und ausweglose Moralbegriffe, dargestellt, in kalter Schönheit, logisch in sinnloser Gewalttat endend — Chabrols ständiges Thema von Gefangenen der Umwelt. Und entfernt mag man in diese Reihe auch des Inders Satyajit Ray mit dem „Goldenen Bären“ ausgezeichnete Anklage „Ferner Donner“ zählen — doch spürt man hier einen Schimmer der Hoffnung für die Güte, ein Verständnis für den Menschen, das von Größe zeugt.

Großer Glanz »— wenn auch vielleicht die geschlossene Vollkommenheit der im Vorjahr gezeigten Reihe fehlte — lag auch über der diesjährigen Retrospektive der Berliner Filmfestspiele, dem „Lieblingskind“ von Dr. Bauer. Sie war heuer in erster Linie dem im Vorjahr im Alter von 79 Jahren verstorbenen, zuerst in Deutschland wirkenden, dann später in den USA groß gewordenen Schauspieler und Regisseur William (Wilhelm) Dieterle gewidmet, der als Schöpfer des Biographiefilms in die Geschichte der Kinematographie eingegangen ist: Sein Werk — 58mal wirkte er als Darsteller in Filmen mit, 73 Filme inszenierte er reibst und in 14 war er gleichzeitig Hauptdarsteller und Regisseur — verdient unbedingt Beachtung; Dieterle war ganz erstaunlich auf keine bestimmte Linie festzulegen, er verstand es ebenso, Trivialstoffe und gängige „Publikumsware“ zu machen wie Themen von großer Problematik und Bedeutung anzufassen und zu gestalten: Seine Filme über Louis Pasteur, Emile Zola, Dr. Ehrlich und vor allem (den bei uns leider bisher noch nie gezeigten) Benito Juarez sind Klassiker — und daß der gleiche Regisseur ebenso Reinhardts „Sommernachtstraum“ in filmische Form zu setzen verstand wie Hugos „Glöckner von Notre Dame“, aber auch das neoveristisch beeinflußte Drama „Vulcano“ mit der großen Anna Magnani, beweist seine reiche

Palette. Die Retrospektive und Dieterle selbst würden eine eigene größere Auseinandersetzung verdienen.

Wie in den letzten Jahren, fand heben den offiziellen Filmfestspielen auch noch die Veranstaltung des „Internationalen Forums des jungen Films“ statt; doch wird es dem nach Berlin gereisten Kritiker kaum möglich gemacht — vielleicht mit Absicht, um eine Kluft aufzureißen —, beide Veranstaltungen komplett zu besuchen. Schade — denn auch dieses Programm ist zweifellos sehenswert und wichtig und die Absicht, eine nicht von kommerziellen Interessen geleitete Zusammenstellung und Übersicht bestimmter moderner, sozialkritisch oder politisch engagierter (nicht in die Normalkinos kommender) Filme zu zeigen, besitzt Bedeutung. Dennoch muß man sich voll und ganz mit einer Schlußerklärung, gemeinsam von der Internationalen Evangelischen Film-Jury und der Jury des Internationalen Katholischen Filmbüros herausgegeben, solidarisch erklären, die unter anderen Punkten warnend feststellt, „eine falsche Frontstellung zwischen Forum und Wettbewerb wurde oft aus dem Mißverständnis abgeleitet, daß die eine oder die andere Seite die Alleinvertretung filmischer Belange beanspruchen könne. Die besten Chancen für die Zukunft bietet statt unfruchtbarer Konfrontation ein komplementäres Miteinander“. Sicher von nicht geringer Bedeutung für die Zukunft der Berliner Filmfestspiele ist diese Feststellung — doch zerstören (ohne an dessen Stelle etwas Besseres hinsetzen zu können) ist leider ein Prinzip unserer Zeit geworden ...

Es ist zu hoffen, daß die Vernunft siegt; es ist zu wünschen, daß die Berliner Filmfestspiele, die ihre Wichtigkeit stets bewiesen haben und auch im dreiundzwanzigsten Bestandsjahr mit einem ausgewogenen Programm demonstrierten, einsichtige und verständnisvolle Geldgeber auch für die Zukunft finden werden. Jede Botschaft, die von der Situation Berlins kündet, ist wertvoll und besitzt Gewicht, jedes Wort, das über Berlin gesprochen oder geschrieben wird, ist ein Pfeiler für die Unabhängigkeit und Freiheit dieser Stadt, die man ebenso bewundern wie lieben muß. Keiner der Verantwortlichen darf dies übersehen — und in diesem Sinn haben die Filmfestspiele in Berlin ihre große Aufgabe und Bedeutung, die noch weit über ihre künstlerische Zielsetzung hinausreichen.

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