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Eine Kluft zwischen Epochen
Die letzten Versuche, Europa am Rande des Abgrundes noch zu retten, konnten nicht Gestalt annehmen. Kaum waren sie angedeutet, waren sie auch schon überholt, Opfer der rasanten Entwicklung. Der britische Außenminister ersuchte Österreich-Ungarn sich damit zu begnügen, sich durch-die Besetzung Belgrads ein Pfand zu sichern, im übrigen aber die Auseinandersetzung mit Serbien vor ein Schiedsgericht der vier europäischen Großmächte zu bringen. Österreich lehnte nicht ab, weigerte sich aber, die militärischen Operationen einzustellen. Im übrigen hatte durch den Beschluß der russischen Generalmobilmachung am 30. Juli, also noch bevor der Ministerrat in Wien über die Antwort auf den englischen Plan entschieden hatte, dieser Plan ipso facto seine Aktualität verloren.
Am 31. Juli antwortete Deutschland mit einem gleichzeitig an Rußland und Frankreich gerichteten Ultimatum und erklärte den „Zustand der drohenden Kriegsgefahr“. Am selben Tag beschloß Österreich- Ungarn seinerseits die Generalmobilmachung, um sich gegen einen russischen Angriff zu wappnen. Nachdem man von Rußland keine
1918 hatten junge Menschen, die den Krieg überlebt hatten, das Gefühl, daß 1914 nicht vier Jahre zurücklag, sondern Jahrzehnte, daß sie uralt geworden waren. Eine Generation fühlte sich von ihrer Vergangenheitgetrennt. Es lagnicht nur am Untergang zweier Monarchien samt ihrem Wertsystem, der Unsicherheit ais Lebensgefühl. Viele verstanden sich selbst nicht mehr, wenn sie sich der Begeisterung erinnerten, mit der sie 1914 „ins Feld gezogen“ waren, und manchem Dichter, etwa Anton Wildgans, Hermann Bahr, war es gar nicht angenehm, wenn ihnen Karl Kraus ihre Beiträge zur Kriegseuphorie unbarmherzig unter die Nase rieb. Das meiste, was auf dieser Welle geschrieben wurde, war von grauenhafter Trivialität, vieles ein Beitrag zur Pathologie der Gefühle im Krieg.
Wie der Erste Weltkrieg die Menschen verändert hat, die ganze Tiefe der Kluft, erkennt man aber, wenn man sich auf Hugo Zuckermanns anläßlich der Krise von 1913 zwischen Österreich und Serbien entstandenes „Österreichisches Reiterlied“ einläßt. Es galt als Hauptwerk patriotisch-militärischer österreichischer Lyrik vor 1914 und belegt eindrucksvoll die Verbundenheit des österreichischen Judentums mit der Monarchie. Der Dichter des Liedes,
Dr. Hugo Zuckermann, war Jude, glühender Zionist und begeisterter österreichischer Patriot. Er wurde 1881 in Böhmen geboren, am 22. November 1914 als Kompaniekommandant in den Karpathen verwundet, starb am 23. Dezember im La-, zarett und wurde auf dem jüdischen
Friedhof von Eger in einem Ehrengrab bestattet.
Der Meraner Anwalt, Dichter, Theaterkritiker, Zionist und Begründer der Kultusgemeinde gab der Sehnsucht nach Israel wie der Liebe zu Österreich Ausdruck. Er belegt aber nicht nur mit Leben und Werk, daß es möglich war, beides ganz zu sein, Jude und Österreicher. Seine Gedichte, die sozusagen noch im Stande der Unschuld entstanden, lassen auch blitzartig erkennen, wie weit eine Bertha von Suttner ihrer Zeit voraus war, wie weit außerhalb ihres Horizontes für die anderen der moderne Krieg als Massenschlächterei lag. Zwischen 1914 und 1918 haben sie ihn zum ersten Mal erlebt.
Das „Reiterlied“ des Leutnants der Reserve Zuckermann ist ebenso wie die Haltung der Berufsoffiziere derVorkriegszeit nochganz von der Bereitschaft zum individuellen Opfer gekennzeichnet, vom Soldatentod als Schicksal einer überschaubaren Zahl von Menschen. Vom millionenfachen anonymen Tod im Schützengraben ahnten sie so wenig wie vom millionenfachen Tod von Frauen und Kindern. Erst der Erste Weltkrieg machte jeden weiteren Krieg, den Krieg schlechthin, für jedermann als verbrecherischen Wahnsinn erkennbar.
HELLMUT BUTTERWECK
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