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Eine Koalition der Pragmatiker

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Es hätte nicht erst des etwas unglücklich interpretierten TV-Interviews des Präsidenten Benya bedurft, um das Unbehagen, das in weiten Bevölkerungskreisen nicht nur über den Regierungsstil, sondern auch über die parlamentarischen Gepflogenheiten an Österreich herrscht, wieder einmal manifest zu machen. Wenig Sinn hätte es, die neu ausgebrochene Diskussion über die Koalition als einen Tribut an die laufende Nostalgie-Welle zu interpretieren. Schon gar nicht aber, etwa herablassend darauf hinzuweisen, der Österreicher neige zur Statik, zur Blockierung zukunftsweisender politischer Entscheidungen nach dem Motto „Mei Ruah will i ham“. Darum komme ihm die Koalition sehr gelegen, und Präsident Benya habe letztlich, wenn auch verklausuliert, nur das ausgesprochen, was viele bewegt.

Man kann die Sache auch ohne intellektuelle Herablassung sehen. Aus dem Unbehagen vieler Österreicher über den derzeitigen politischen Stil spricht die sehr begründete, auch begrüßenswerte Sorge um ein Gleichgewicht der politischen Kräfte. Es wehren sich unterschwellig auch viele dagegen, daß unter der Marke des parlamentarischen Systems in diesem Land die Mehrheit eine — nicht wesentlich schwächere — Minderheit vor allem gesellschaftspolitisch vergewaltigen kann, und daß es schließlich in die Hand kleiner Gruppen gegeben ist, die großen mehr oder weniger schamlos zu erpressen.

Man trifft in dieser Zeit auch wieder auf Überlegungen von Verfassungsjuristen, Professoren der Rechtswissenschaften und Publizisten, in denen mit erhobenem Finger auf das immer weitere Auseinanderklaffen der politischen Wirklichkeit und des Buchstabens der Verfassung hingewiesen wird. Neuformulierung der Verfassung, Verrechtlichung der Verbände, Kontrolle für den Mißbrauch der Macht durch anonyme Kräfte, das alles ist, nicht zuletzt auch im Zeichen der fatalen Watergate-Affäre, sehr aktuell.

Auf die Gefahr hin, symbolisch gesteinigt zu werden, sei die Behauptung gewagt, daß es ein Glück ist, daß die Welt nicht von Verfassungsjuristen, mißvergnügten Vielschreibern und Vielrednern aus der intellektuellen Profession geleitet wird. Es kommt letztlich immer wieder auf jene an, die bereit sind zu handeln, die sich dafür der manchmal mehr, manchmal weniger berechtigten Kritik ausgesetzt sehen. Nur läßt sich die Welt bekanntlich von Redaktionstischen und von den Zimmern der Professoren und ihren Bibliotheken trefflich und leicht regieren.

Man muß im Zeichen von Water-ga1e vorsichtig sein, dennoch sei hier ein Plädoyer für die vielgelästerten Pragmatiker gewagt. Pragmatisches Vorgehen heißt keinesfalls rücksichtsloses Verletzten der Gesetze, technokratische Machtausübung ohne moralische Schranken, es heißt viel mehr etwas anderes: mühsames Ringen um Details, Einsicht, daß Menschen fehlbar sind (und sein sollen), Mut zum „Trotzdem“ (auch wenn man dafür süffisant verlacht wird), erkennen, daß es eine „Notwendigkeit des Vergeblichen“ gibt, wie das ein weiser deutscher Feuilletonist, seines Zeichen Psychiater, einmal genannt hat. Denn kommt uns allen nicht immer mehr zum Bewußtsein, daß die großen, brillant anmutenden

Würfe wenig weiterhelfen, daß sie Papier und Paperbackreihen füllen und nur das Sujet für Fernsehsendungen ergeben?

Der Pragmatiker wird bei all dem skeptisch. Auch er weiß, daß es großer, bewegender und mitreißender Ziele bedarf, aber auch, daß deren Erreichen eine unendlich mühsame Sache ist, weil unser modernes Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, nicht zuletzt infolge der technischen Gegebenheiten derart komplex ist, daß man einmal auch eine Lanze für die so verachteten kleinen Schritte brechen muß. Diese sind nicht von minderer Ordnung, sie sind notwendig, ja sie sind das tägliche Brot, von dem letztlich auch die intellektuellen Träumer und Gesellschaftsverände-rer zehren.

Hier nun scheinen sich Koalitionsmöglichkeiten, unabhängig von parlamentarischen Stärkeverhältni ssen und Usancen, zu ergeben. Eine Koalition der Pragmatiker, aufgebaut auf dem, was in anderem Zusammenhang die „Allianz der Einsichtigen“ genannt wurde, ist notwendig für jede Industriegesellschaft und Massendemokratie. Es bedeutet nicht eine Absage an die Notwendigkeit kühner Zielvorstellungen, wenn man in aller Demut von den Problemen dieser Zeit sagt, daß wir heute im Grunde vor der Alternative stehen: Anarchie oder einigermaßen geordnete Evolution, wobei das Adjektiv „geordnet“ auch viele Leerläufe, Schwachstellen, Improvisationen und alles das, was die brillanten Zeitkritiker verteufeln, in sich schließt.

Wo könnte diese Koalition der Pragmatiker besser beheimatet sein, als dort, wo es um die Realitäten des Alltags in konzentriertester Form geht, also bei den Sozial- und Wirtschaftspartnern? Es ist in der letzten Zeit Mode geworden, den Gewerkschaften in Österreich manches am Zeug zu flicken. „Gewerkschaftsstaat“, „Gewerkschaftskapitalismus“, das sind einige der neuen Reizwörter geworden. Aber Vorsicht auch davor. Die Gewerkschaften sind bei allem, was man gegen sie sagen kann, im Grunde ein stabilisierendes, im guten Sinn des Wortes konservatives Element. Daß es zuweilen auch Pendelausschläge zum Radikalen hin gibt, wer wollte das bestreiten? Aber auch sie sind in Wahrheit an einer geordneten Evolution, nicht aber an einer revolutionären Veränderung, ohne Frage nach dem Nachher, interessiert Darum sind auch neulinke Bemühungen um eine Solidarisierung von Arbeitern und Intellektuellen meist kläglich gescheitert. Ein Glück übrigens für jedes Gemeinwesen, das komplizierter ist, als die intellektuellen Theoretiker und Vereinfacher wahrhaben wollen.

Eis ist darum eine wichtige Aufgabe, hier in Österreich ebenso wie anderswo die Gewerkschaften für diese ihre Funktion zu stärken, insbesondere die vernünftigen, aufbauenden Elemente in ihnen zu stützen. „Jusos“ gibt es nämlich überall — in allen Parteien, auch in jenen, die sich konservativ nennen, aber stets — wenn auch vergeblich — bemüht sind, dem, was als „Fortschritt“ gilt, auf den Fersen zu bleiben. Denn die vielen großen Aufgaben, die vor uns liegen, sind in Ansätzen und den zitierten vielen kleinen Schritten nur im Miteinander der praktischen Vernunft zu lösen.

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