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Eine Krankheit namens Opposition

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Den Bulldozern, die vor einiger Zeit in der sowjetischen Hauptstadt gegen eine improvisierte, nicht genehmigte Kunstausstellung unter freiem Himmel vorgegangefc sind, folgten Schalmeientöne, folgte die Erlaubnis, auf einem abgelegeneren Grundstück auszustellen. Dieser Erlaubnis aber folgte kürzlich wiederum die Verhaftung eines nicht genehmen Künstlers, der seine Bilder nicht nur hergezeigt, sondern dabei auch nicht genehme Gespräche mit den Betrachtern geführt hatte. Zuckerbrot und Peitsche für Dissidenten — das Zuckerbrot der Freiheit in winzigen, die Peitsche der Unterdrückung in kräftigsten Dosen.

Ein Solschenizyn, der zur Ausreise gezwungen wird, ein Sacharow, den nur seine Popularität im Westen bislang vor der Verhaftung bewahrt hat — sie sind nur die Spitze eines Eisberges. Die Zahl jener Sowjetbürger, die in Opposition zur offiziellen Auffassung von Demokratie, Freiheit und Menschenrechten stehen, und die diese Einstellung nicht mit der Einweisung in Straflager und „Irrenanstalten” bezahlen, ist winzig. Wie groß die Zahl derer ist, die eingesperrt, zu Zwangsarbeit verurteilt oder zumindest in die unwirtlichsten, Teile der Sowjetunion verbannt wurden, vermag im Westen niemand auch nur annähernd zu schätzen.

Aber gerade die Tatsache, daß immer wieder neue Namen von Menschen auftauchen, die in Opposition mit der Doktrin und damit nahezu automatisch auch mit den Machtmitteln des Sowjetstaates geraten sind, weist darauf hin, daß es eine breite Schicht von Unzufriedenen gibt, von Unzufriedenen, die vorerst den Mund halten, aus der sich aber die ebenfalls nicht gerade kleine Gruppe derer, die es eines Tages doch wagen, den Mund aufzumachen, rekrutiert.

Eine weitverbreitete Ansicht über die Verhältnisse in der Sowjetunion könnte man etwa folgendermaßen zusammenfassen: „Die Sowjetunion ist zwar eine Diktatur, aber da diese Diktatur das Leben der Menschen verbessert hat, und da sie ja Demokratie im westlichen Sinne niemals kennengelernt haben, sind die Sowjetbürger in ihrer überwiegenden Mehrzahl mit ihrem Staat zufrieden. Das harte Vorgehen gegen die Oppositionellen soll die Mehrheit der Bevölkerung vor Ansteckung mit westlichen Ideen schützen. Aber ihre Zahl ist winzig klein. Die überwiegende Mehrzahl der Sowjetbürger ist zufrieden mit dem Erreichten, stolz auf ihren Staat und einigermaßen zufrieden mit ihren materiellen Lebensumständen. Allenfalls raunzen sie halt über den Mangel an einzelnen Waren.”

Es sind keineswegs vorwiegend Anhänger der kommunistischen Ideologie, die so reden. Aber man sollte nicht verkennen, daß die oben geschilderte Meinung den sowjetischen Machthabern nur recht sein kann, stempelt sie doch die Dissidenten zu einer winzigen Gruppe von Außenseitern, die keineswegs das Denken und Fühlen breiter Schichten verkörpern, sondern sozusagen einen Fremdkörper im sowjetischen Volk bilden.

Wäre es tatsächlich so, dann bliebe die Härte, mit der gegen diese „Außenseiter” vorgegangen wird, unverständlich — es sei denn, man würde annehmen, daß die in der Substanz nach wie vor stalinistischen innenpolitischen Unterdrückungsapparate einfach aus purer Gewohnheit weiterrotieren. Es gibt nun aber eine große Zahl von Indizien, die darauf hinweisen, daß die Dissidenten Ideen aussprechen, die einem großen Teil der Bevölkerung bloß nicht über die Lippen kommen. Oder daß ein großer Teil der sowjetischen Bevölkerung zumindest in hohem Maße dazu neigt, sich von den Ideen der Dissidenten anstecken zu lassen. Zu diesen Symptomen gehört nicht zuletzt die weitverbreitete Neo-Religio- sität, deren Anzeichen sogar dem auf-r merksamen westlichen Touristen schwerlich entgehen, wenn er sie zur Kenntnis nehmen will.

Eine gewisse Saturiertheit, aber auch der Stolz auf das Erreichte sollen nicht weggeleugnet werden. Aber das Beispiel sehr vieler anderer Länder, die auch nie oder kaum je eine Demokratie in unserem Sinne kennengelernt haben und den Ruf nach Demokratie trotzdem nur mit äußerster Härte zum Verstummen bringen können, lehrt, daß auf der Liste der Konsumartikel aus dem großen Warenhaus des Westens, Abteilung für immaterielle Güter, vor allem die Meinungsfreiheit ganz obenan steht. Und es hieße, die Informiertheit des Sowjetbürgers sehr zu unterschätzen, wollte man annehmen, daß er nicht genug weiß, um nicht zu wollen, was er nicht hat. Im Gegenteil — gerade die Lückenhaftigkeit der Information mag die westliche Demokratie breiten sowjetischen Schichten noch attraktiver erscheinen lassen, als sie ohnehin ist.

In der Tiefe der sowjetischen Bevölkerung verschwimmt der Eisberg, dessen Spitze die Prominenten unter den Dissidenten bilden, mit seiner Umgebung — es ist kaum möglich, die Grenzen auszumachen. Aber der Sehnsucht nach den luxuriösesten und faszinierendsten Luxusgütern des Westens, Meinungsfreiheit und Menschenrechten, steht die in den langen Jahrzehnten der stalinistischen harten Hand erlernte Disziplin des Verzichts gegenüber. Die Schicht der Zufriedenen dürfte sich weitgehend mit der Schicht der Nutznießer des Systems decken. Der Rest hat gelernt, zu schweigen. Bis auf jene Gruppe, die man die Dissidenten nennt.

Als Symbolfigur für den letzten Rest von Skrupeln ist Professor Sacharow nicht nur frei, sondern noch immer in der Lage, zu telephonieren, mit westlichen Gesprächspartnern in Kontakt zu treten. Mag sein, daß Sacharow diese Bevorzugung auch innenpolitischen Faktoren verdankt — diesen vielleicht noch in stärkerem Maß als seinen Kontakten zur westlichen Presse. Der Fall Wladimir Bukowskij aber lehrt, daß die Massenmedien des Westens, und dort, wo sie versagen oder wo ihr Einfluß nicht genügt, gezielte Unterschriften-, Brief- und ähnliche Aktionen das Schicksal eines Gefangenen, auf den man im Westen aufmerksam geworden ist, durchaus verbessern können. Bukowskij ist 1942 geboren und wurde — wegen des Besitzes unerwünschter Literatur — 1963 erstmals angeklagt und für unzurechnungsfähig erklärt. Es folgen 1965 eine achtmonatige „Behandlung” in einer „Nervenklinik” des KGB, zwei Jahre später die Verurteilung zu drei Jahren wegen einer Demonstration für Verhaftete (Galanskow und Ginsburg unter ihnen), im März 1971 Einlieferung in eine Klinik. Nur die Proteste der westlichen Öffentlichkeit, darunter eine Zuschriftenaktion der westdeutschen „Gesellschaft für Menschenrechte”, verhinderten die Zerbrechung dės Inhaf tierten in der Nervenklinik und verschafften ihm den Prozeß, den er wollte, und der 1972 mit zwei Jahren Gefängnis, fünf Jahren Arbeitslager und fünf Jahren Verbannung endete. Weitere Proteste beendeten die „verschärften Haftbedingungen” des gesundheitlich Angeschlagenen, der auf Hungerration (zwei Gramm Zucker pro Tag, kein Fett) gesetzt worden war. Immerhin: Das Protestschreiben der „Gesellschaft für Menschenrechte” an den Obersten Sowjet hatten 30.000 Personen unterzeichnet.

Auch für das Schicksal des inhaftierten Mathematikers Leonid Pljuschtsch, der ebenfalls ln einer „Nervenklinik” festgehalten wird, beginnt sich der Westen neuerdings zu interessieren. Im Fall von Grigo- renko hatten die Proteste aus dem Westen Erfolg. Aber viele, viele Schicksale sind nach wie vor unklar — wozu die Drohung des KGB beiträgt, die Verwandten der Inhaftierten aufs Korn zu nehmen, erheblich beiträgt.

Festgehalten wird unter anderen der Deutsche Erich Abel, der verhaftet und verurteilt wurde, weil er sich um die Ausreisegenehmigung für sich und andere aus Deutschland stammende Sowjetbürger bemühte. Abel, der vor einiger Zeit in einen Hungerstreik trat, fordert Zulassung dės Internationalen Roten Kreuzes zur Hilfe für politische Gefangene in der Sowjetunion.

Wie leicht man nach dem Zweiten Weltkrieg Sowjetbürger wurde, und wie schwer es ist, kein Sowjetbürger mehr sein zu wollen, zeigt das Schicksal einer Margarete Gretzin- ger, die 1945 in Köln von sowjetischen Offizieren Verhaftet wurde — offenbar hielt man sie für eine verkappte Russin. Nach zehn Jahren Zwangsarbeit wurde sie zur Annahme eines sowjetischen Passes ge zwungen. Symptomatisch ist die Reaktion eines KGB-Beamten auf die immer wieder vorgebrachten Bitten der Frau, sie ausreisen zu lassen, der ihr riet, sich aufzuhängen: „Dazu wünsche ich Ihnen viel Erfolg!”

Notorisch ist die Brutalität, mit der die KGB-Beamten auch und gerade in der Öffentlichkeit etwa gegen Demonstranten Vorgehen. Und sie ist wohl auch beabsichtigt, da sie Schrecken verbreitet und, siehe oben, jedem Sowjetbürger, der Zeuge einer solchen Vorgangsweise wird, eine Lektion des Inhalts erteilt, es sei besser, zu schweigen. Mehrere Beispiele zeigen, daß direkte Brutalität gerade bei Verhaftungen in der Öffentlichkeit üblich ist, während bei Verhören seltener geschlagen und eher mit Repressalien gedroht wird. Ein solcher Fall: Am 11. Februar vergangenen Jahres demonstrierten 27 Deutsche aus Estland vor dem Moskauer Zentralkomitee. Sie trugen Plakate mit der Forderung, sie ausreisen zu lassen. Ein an dieser Demonstration nicht beteiligter Deutscher namens Friedrich Rüpel beobachtete von einem gegenüberliegenden Park, in dem er mit seineir 13jährigen Tochter spazierenging, wie die Verhafteten „gleich Holzscheiten in die Fahrzeuge der Polizei geworfen und abtransportiert wurden”.

Anschließend kletterten drei KGB- Männer über den Zaun in den Park und kontrollierten die Ausweise der Spaziergänger. Der Deutsche und seine Tochter, die sich weigerten, mit den KGB-Leuten über den Zaun zu klettern und zum Polizeifahrzeug zu gehen, wurden gewürgt, mit Handschuhen geknebelt, geschlagen und auf den Zaun geworfen. Es folgten mehrere Tage Haft, Verhöre, Haussuchung — wobei ein Photo von Solschenizyn zum Vorschein kam.

Der Fall dieses Deutschen und viele andere Fälle deuten darauf hin, daß es zur Taktik des KGB gehört, in der Öffentlichkeit Angst und Schrecken zu verbreiten, den Verhafteten bei den Verhören, aber vor allem das Gefühl zu vermitteln, sie hätten es mit einem anonymen Apparat gewaltigster Dimension zu tun, gegen den ein einzelner einfach nichts aus- richten könne. Wobei verhaftet, wieder freigelassen, neuerlich abgeholt wird — wer einen Haftbefehl sehen will, bekommt oft zu hören, es handle sich nicht um eine Festnahme, sondern nur um die Bitte, zu einem Gespräch mitzukommen — bei Weigerung sei man allerdings gezwungen, Gewalt anzuwenden.

Dip Abschiedsszenen werden in manchen Fällen schweigend beobachtet und auch dann nifcht unterbrochen, wenn sich Frau und Kinder minutenlang an den Abgeholten klammern — mag sein, daß auch diese Maßnahme dazu dient, die Un- ausweichlichkeit des Ereignisses zu betonen und es in der.Erinnerung aller Beteiligten zu verankern.

Denn bei aller Willkür und Zufälligkeit einzelner Maßnahmen darf man niemals vergessen, daß die sowjetischen Unterdrückungsapparate fahrung verfügen, sondern auch über den Know how des psychologischen Terrors verfügen und zum Teil mit Methoden vorgehen, die dem Betroffenen undifferenziert einfach „brutal” und „ungehobelt” erscheinen, in Wirklichkeit aber genau ausgeklügelt und in vielen Fällen auf den jeweiligen Dissidenten „maßgeschneidert” sind.

In dieses Bild fügt sich auch die abstoßende Brutalität, mit der KGB- Angehörige etwa vorgehen, wenn sie den Mitgliedern religiöser Gruppen die Kinder entreißen, um sie in staatliche Erziehungsanstalten zu bringen. Auch solche Aktionen scheuen keinesfalls das Licht der Öffentlichkeit, sondern suchen es eher. Auch in solchen Fällen ist es keineswegs „verboten”, zuzusehen — nur nicht ratsam, weil während oder nach solchen Abtransporten oft die Ausweise der Umstehenden kontrolliert und Personen, die für Sympathisanten der Verhafteten gehalten werden, mitgenommen werden.

Das KGB als großer Lehrmeister der sowjetischen Nation setzt die stalinistische Tradition fort, die unter anderem darin besteht, daß der Appell, „dafür” zu sein, das Werben um Begeisterung für den Sowjetstaat, durch die Drohung mit Zwangsmaßnahmen ersetzt wird. In diesem Sinne ist die ultima ratio des Sowjetstaates der Zynismus, der Appell an Angst, Bequemlichkeit und Opportunismus, bilden nicht etwa revolutionäre Ziele, sondern materielle Vorteile und Privilegien die Aufstiegsanreize der Sowjetmenschen.

Ein System, das bereits in den frühesten Phasen der Stalinschen Herrschaft angelegt war. Und das seine Verfeinerungen nicht zuletzt darin offenbart, wie es sich wem gegenüber wann und wo gebärdet. In der Öffentlichkeit wird mehr geprügelt als in Zellen und Verhörstuben. Dort wird denjenigen, auf deren Umerziehung, oder „Heilung”, man noch hofft, teils gedroht, teils gut zugeredet. Letzteres nicht selten mit unverblümt materiellen Motivationen: „Wollen Sie nicht Geld, Datscha, Auto?” Der unbelehrbare Rest aber muß zerbrochen werden, um dem Rest der Bevölkerung zu beweisen, daß „es keinen Sinn hat”. Daß es besser ist, „dafür” als. „dagegen” zu sein, und daß es den Staat nicht kümmert, wie einer denkt — solange er es nicht sagt.

Die Zerbrechung der Unbelehrbaren, die „Heilung” der Unheilbaren vollzieht sich in „Nervenkliniken”, in denen die Nerven zerstört werden, in Gefängnissen, Arbeitslagern und in der Verbannung. Wobei man ruhig davon ausgehen kann, daß die KGB-Beamten die Leute, die sie in ihre „psychiatrischen Kliniken” schik- ken, tatsächlich für verrückt halten. Und dies gerade deshalb, weil sie jedem ideologischen Motiv so gründlich abgeschworen und alles, was Begeisterung wecken konnte, durch das Zuckerbrot des Opportunismus ersetzt haben. Denn in ihrer Sicht entscheidet sich der Dissident ja nicht für den Westen gegen den Osten, nicht für die eine Ideologie gegen die andere, nicht für Religion und gegen Kommunismus, sondern er setzt einen ihnen zutiefst unverständlichen Akt der Selbstzerstörung — indem er die unverzeihliche Dummheit begeht, überhaupt eine Überzeugung zu haben. Dagegen sind 3 i e gefeit.

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