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Eine Kulturgeschichte Österreichs

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Die Darstellung zeitlich und inhaltlich weitreichender Wissensgebiete wird meistens von einer mehr oder minder großen Anzahl von Verfassern besorgt. Dies hätte man auch bei einer „Kulturgeschichte Österreichs” erwartet, die thematisch von der Vor- und Frühgeschichte bis 1938 reicht, ja mit einzelnen Aspekten noch darüber hinausweist. Daß eine solche Arbeit von einem einzigen Autor, einer Frau, geleistet wurde, ist staunenswert.

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Die Darstellung zeitlich und inhaltlich weitreichender Wissensgebiete wird meistens von einer mehr oder minder großen Anzahl von Verfassern besorgt. Dies hätte man auch bei einer „Kulturgeschichte Österreichs” erwartet, die thematisch von der Vor- und Frühgeschichte bis 1938 reicht, ja mit einzelnen Aspekten noch darüber hinausweist. Daß eine solche Arbeit von einem einzigen Autor, einer Frau, geleistet wurde, ist staunenswert.

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Die Verfasserin, Hanna Domandl, hat ein Jahrzehnt daran gearbeitet, es ist aber die Ernte eines ganzen Lebens. Schon in ihrer Jugend hat sie sozusagen historische Luft geatmet, denn ihr Vater, der aus dem oberösterreichischen Neukirchen stammende Theodor Mayer (1883-1972), war ein namhafter Mediaevist, der seine akademische Laufbahn in Wien begann, dann als Ordinarius für mittelalterliche Geschichte an der Deutschen Universität in Prag, später in Gießen, Freiburg im Breisgau und Marburg lehrte. Die Tochter studierte gleichfalls Geschichte und war nach Erlangung des philosophischen Doktorgrades und der Lehramtsprüfung für Deutsch, Geschichte und Geographie am Bundesgymnasium für Mädchen in Salzburg als Lehrkraft tätig. Sie vermählte sich später mit dem heute im 90. Lebensjahr stehenden Sepp Domandl, dessen Forschungen besonders Paracelsus, Kant, Goethe und Stifter galten. Die Universität Salzburg hat ihm 1978 das philosophische Ehrendoktorat verliehen. Er war auch der Begründer und Leiter des Auditorium Academicum der Salzburger Volkshochschule, wo Universitätslehrer aus dem In- und Ausland über die Forschungsergebnisse ihrer Disziplinen aus dem Bereich der Natur- wie der Geisteswissenschaften vieldiskutierte Vorträge hielten. Hier hat Hanna Domandl zweifellos manche Anregungen für ihr weitausholendes Werk erhalten.

Die Verfasserin zitiert in der Einleitung zu ihrem Buch einen Satz Heimi-to von Doderers aus dessen Roman „Die Dämonen” (1956): „Die Vergangenheit ist nichts Festliegendes, wir gestalten sie immer neu. Die ungeheuren Massen ihrer Tatsachen sind nichts, unsere Auffassung davon ist alles. Darum muß jede Zeit von neuem Geschichte schreiben.”

Von der Venus zum „Ötzi”

Die Vielseitigkeit des Werkes kann nur angedeutet werden. Es ist mit reichem, zum Teil farbigem Bildmaterial versehen. Räumlich konzentriert es sich auf die Republik Österreich, natürlich unter Berücksichtigung der Zusammenhänge, die darüber hinausführen. Zeitlich wird mit dem Paläoli-thikum und dessen frühesten Funden begonnen („Venus von Willendorf” und „Tanzende Venus” aus Niederösterreich und der erst 1991 entdeckte Gletschermann „Ötzi” aus Tirol). Die Hallstätter Kultur gibt Anlaß zu Hinweisen auch auf Kultisches und Dämonisches jener Zeit, dann folgt ein Kapitel über Österreich unter der Herrschaft Roms, sodann eine Betrachtung dieses Raumes unter fränkisch-bayrischer Herrschaft mit der christlichen Mission.

Daran schließt der vielgliedrige Teil über die Entfaltung der Markgrafschaft zum „Hause Österreich” (976-1492), die Entwicklung der Habsburger Universalmacht (1493-1792), schließlich der Werdegang zum österreichischen Kaisertum und zur Geburt der Österreichisch-ungarischen Monarchie mit dem „Ausgleich” von 1867. Nach dem Ersten Weltkrieg zerbricht dann der Vielvölkerstaat, es entsteht der Alpenstaat der Ersten Republik.

Die wesentlichen Stadien dieser Entwicklung werden aufgezeigt, doch über die politischen Ereignisse hinaus geht es der Verfasserin um die Vielfalt der kulturellen Ereignisse in den diversen Epochen und Einzelbereichen, deren Wirkungen in den verschiedensten Richtungen verfolgt werden. Der Begriff Kultur wird weit gefaßt. Er bezieht sich nicht nur auf Literatur, bildende Kunst, Musik, Philosophie und Religion. Es werden ebenso die sozialen Zustände im Verlauf der politischen Wandlungen unter den wechselnden Parteien herangezogen. Die Progression der Wirtschaft wird vorgeführt, die Entwicklung zum Industriestaat, der wachsende Verkehr und Handel, Einblicke in Zustände der Arbeiterschaft und des Bauerntums werden gewährt.

Einzelne Kapitel befassen sich mit Sonderbereichen: wachsende Macht der Presse, Wirkungen des Theaters (darunter auch der „Salzburger Festspiele”), Stellung des Judentums zwischen Assimilierung, Orthodoxie und Zionismus. Lesenswert ist die Darstellung der Entwicklung des Schulwesens und im Zusammenhang damit die Frauenbewegung, denn lange mußten die Frauen kämpfen, bis sie nicht nur des bürgerlichen Wahlrechtes teilhaftig wurden, sondern auch zum Studium an Mittelschulen und letztlich an Hochschulen Zugang erlangten. Natürlich werden bei solchen Darlegungen immer auch diverse Persönlichkeiten vorgestellt (wie etwa Marianne Hainisch, Rosa Mayreder oder die Friedenskämpferin und erste Friedensnobelpreis-Trägerin Bertha von Suttner). Selbstverständlich erfolgen entsprechende Personalhinweise auch an vielen anderen Stellen des Buches (so ersetzen etwa die Abschnitte über Literatur nahezu eine kleine Literaturgeschichte).

Auch auf Reisen, Fremdenverkehr und Alpinismus kommt die Verfasserin zu sprechen. Sogar der Sport wird nicht vergessen. Da finden etwa Fußballfreunde Hinweise auf das seinerzeitige „Wunderteam”, dessen Länderspiele erstmals Willy Schmieger übertragen hat, und zwar zu einer Zeit, da es noch kein Fernsehen gab. Schmieger war kein Rundfunkansager oder Turnlehrer, sondern Mittelschulprofessor für Klassische Philologie und Deutsch, in seiner Jugend selbst internationaler Fußballer. Altere Leser werden Namen begegnen, deren Träger sie selbst noch auf dem Spielfeld sahen, etwa den Tormann Hiden oder die Stürmer Sindelar, Gschweidl, Schall und Vogl.

Um-, aber nicht allumfassend

So vielseitig erweist sich dieses angenehm zu lesende Büch! Es ist selbstverständlich, daß man nicht alles von so einem Werk verlangen kann. Mit Recht sagt der emeritierte Historiker Erich Zöllner in seinem Vorwort: „Es wird immer möglich sein, die eine oder andere Lücke in einer so inhaltsreichen Publikation zu eruieren. Es konnte von der Autorin naturgemäß nicht annähernd alle einschlägige Literatur ausgewertet werden. Das mögen Rezensenten bedenken, die mitunter besonders irritiert sind, wenn ihnen ihre eigenen Arbeiten nicht genügend berücksichtigt erscheinen.” Derartige eventuelle Kritikaster seien an den lateinischen Ausspruch erinnert: Omnia posse nemo obligatur.

Alles in allem: ein Werk, das man nicht nur in allen öffentlichen Bibliotheken finden sollte, sondern auch in der Bücherei jedes geistig Interessierten, weil es in vielen einschlägigen Bereichen orientieren kann und auf die verschiedensten Fragen Antwort zu geben vermag.

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