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Digital In Arbeit

Eine Mappe mit Arbeiten anstelle des Zeugnisformulars

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Thesehartige Vorbemerkungen als Piloten für eine Brücke der Verständigung:

• Die Sicherung der national-ökonomischen Prosperität unseres Staates und der Fortbestand unserer Hochkultur sind an das Heranwachsen einer leistungsfähigen Generation gebunden. (Das zur Diskussion gestellte Beurteilungssystem führt nicht umsonst den Begriff „Leistung“ im Schilde.)

• Menschliches Lernen wird nicht nur durch sachliche Neugier angetrieben, sondern bedarf in hohem Maße auch der sozialen Motivation. Unter ihr ist freilich mehr zu verstehen als die Wettbewerbsmentalität der Rennbahn und das egoistische Rivalisieren um die besten Rangplätze.

• Ohne Rückmeldung bleiben Lernprozesse unvollständig. Ein Verhalten, das seine Wirkung nicht erfährt, wird zu keiner Erfahrung.

• Eine Schule, der das Fördern wichtiger ist als das Auslesen, legt mehr Gewicht auf das Erfinden von hilfreichen Lehrstrategien als auf das prüfende Kontrollieren.

• Im menschlichen Leben gibt es bedeutende Lernabschnitte, die nicht mit dem Instrument „Ziffernnote“ kontrolliert werden. Man denke an den imponierenden Leistungszuwachs im Kindergartenalter wie auch an das Engagement vieler schulmündiger Jugendlicher in der Berufslehre.

• Einen Menschen zu beurteilen und damit schicksalhafte Entscheidungen über ihn zu fällen, muß in größter Verantwortung, in einem wohlwollenden Klima und vor allem mit einem Instrumentarium geschehen, das jede Ungerechtigkeit und persönliche Zwietracht vermeidet.

• Daß es uns Lehrern kaum gelingen kann, mit der Ziffernnote eine Schülerbeurteilung durchzuführen, die über die Klassen und Schulen hinweg angemessen objektiv, gültig und zuverlässig wäre, ist so gründlich belegt wie kaum eine andere Gegebenheit im pädagogischen Feld. (Diese Tatsache, die hier nicht weiter ausdiskutiert werden kann, ist zur eigentlichen Anregung für das Nachdenken über direkte Leistungsvorlage geworden.

• Die Schule hat den Auftrag, der Jugend Kulturtechniken und Kulturgüter zu vermitteln und damit auf die Bewältigung des Lebens vorzubereiten. Daß dieses Geschäft nicht ohne Plage gelingen kann, macht es mit dem Leben verwandt. Daß es dabei analog zum Leben auch ungerecht zugehen soll, steht nicht im gesellschaftlichen Auftrag derjenigen Institution, die zu lebenslangem Lernen verlocken soll.

• Direkte Leistungsvorlage ist keine Maßnahme, die an den Grundfesten der Schule rüttelt. Schule hat es lange vor der Einführung der Ziffernnote gegeben und viele Schulen unserer Zeit haben begonnen, auf sie wiederum zu verzichten (Waldorfschulen, Jena-Plan-Schulen, Grundschule in Schweden.).

• Direkte Leistungsvorlage darf nicht mit verbaler Beurteilung verwechselt werden. Allgemeine Umschreibungen erstarren sehr bald in schematischen Worthülsen, die kaum mehr bringen als Ziffernnoten, nur daß sie auch nicht mehr verrechenbar sind.

Wenn sich der angehende Kunststudent in der Akademie vorstellt, sind nicht seine Noten im Maturazeugnis wichtig, sondern die vorgelegten Blätter. Ihre Aussage soll nicht vercodiert und durch ein Zeichen verstellt werden, ihre Sprache soll keine Deformation durch Ubersetzungsfehler erleiden, und das Werk selbst soll transparent bleiben. Auf den ersten Blick könnte es scheinen, als wären es ganz wenige schulische Disziplinen, in denen dieses Modell einsetzbar sei. Bei näherem Zusehen zeigt es sich, daß es in jedem Gegenstand möglich ist, das vom Schüler erreichte Niveau durch direkte Leistungsnachweise zu belegen.

Anstelle des Zeugnisformulars würde der Schüler eine Mappe mit den letzten Aufsätzen, Diktaten, Zeichnungen, Rechnungen und Konstruktionen, mit Projektarbeiten, Leselisten und informellen Tests, mit Aufzählungen von Ubungsformen, Liedern und auch mit statistischen Daten aus diversen Messungen ausgehändigt bekommen. Die einzelnen Arbeiten dieses anschaulichen Berichtes über die Leistungen des Schülers wären vom Lehrer wie bisher gewissenhaft zu verbessern, zu interpretieren und wohl auch zu signieren. An eine zahlenmäßige Vermehrung der Prüfungsarbeiten ist nicht gedacht. Die ausschließlich mündlich nachweisbaren Leistungsbereiche ließen sich in Zusätzen vermerken, die entweder vergleichend auf das Niveau der schriftlichen Arbeitsvorlage Bezug nehmen („Die Aussprache hinkt der Güte der schriftlichen Arbeiten etwas nach“) oder eigenständige Aussagen sind („kann seine Gedanken in der Diskussion überzeugend darstellen“). Auf die äußerst zweifelhaften mündlichen Prüfungen selbst möge weitgehend verzichtet werden.

Um den Anteil subjektiver Einflüsse auf die Schülerbeurteilung noch mehr zu reduzieren, sollen zumindest an den schulischen Ubertrittsstellen auch standardisierte Tests (normorientiert wie kriteriumorientiert) eingesetzt werden, die eine Ortung der „bildhaft“ vorgelegten Belege der Individual-leistung in objektiven Prozenträngen und Punktewerten ermöglichen.

Die Fähigkeit zum „Lesen“ der vom Lehrer kommentierten Berichte sollte nicht unterschätzt werden. Ein Spenglermeister wird beispielsweise mit großem Interesse die Oberflächenberechnungen studieren, die ihm der Bewerber um eine Lehrstelle vorlegt, und dieser Dokumentation sehr viel mehr Information entnehmen als einer Ziffernnote. Die Eltern würden insbe-

sondere in den Klassenelternabenden Gelegenheit bekommen, einen vertieften Einblick in die interessante Palette der schulischen Arbeitswelt zu tun und die Arbeit des eigenen Kindes auf diesem Hintergrund (stillschweigend) zu taxieren.

Unter den gegebenen Umständen wird sich der Lehrer oder das Lehrerkollegium nach wie vor für die Möglichkeit des Aufstieges in die nächsthöhere Klasse oder eines Uberstieges in andere Ausbildungsbereiche verbürgen müssen. In Zweifelsfallen kann die weiterführende Bildungsinstitution in die Mappe Einsicht nehmen und den Inhalt mit ihrem zum Teil fremd - und zum Teil selbstgesetzten Anspruchsniveau vergleichen. Die Diskussion hat in Österreich ja noch kaum begonnen, ob es nicht im Dienste der Verbesserung des Schulklimas einerseits und der Chancengerechtigkeit andererseits günstiger wäre, daß anstelle der Zubringerschule die nachfolgende Institution über die Eignung der Bewerber entscheidet (selbstverständlich sind Erprobungsphasen gemeint und nicht punktuelle Aufnahmsprüfungen!)

Das Definieren von Eingangsqualifikationen würde eine positive Vorwirkung auf die Motivationslage in der Vorbereitungszeit haben und die schulischen Lernprozesse bedeutend versachlichen (vergleiche ähnliche Einrichtungen im englischen Schulsystem, in welchem es bezeichnenderweise das „Schwindeln“ kaum gibt). Wie gut die direkte Leistungsvorlage die Ziffernnote im Hinblick auf die Berichts- und die Berechtigungsfunktion der Schulnachricht im österreichischen Schulwesen ersetzen kann, soll in Schulversuchen erprobt werden dürfen. Hinsichtlich der pädagogischen Funktion liegen bereits eine Reihe von Forschungsergebnissen vor, die darauf hinweisen, daß in der nicht durch Noten geäußerten sozialen Beachtung mehr Ansporn liegt als in den Noten selbst.

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